Nur ein Viertel aller Flüsse ungestört

Nur mehr ein Viertel aller Flüsse weltweit folgen ihrem natürlichen Verlauf, ohne dass sie von Staudämmen und Schleusen blockiert oder umgeleitet werden, so eine Untersuchung von 12 Mio. Flusskilometern. Das schadet dem Klima, Tieren, Pflanzen und Menschen.

Am asiatischen Strom Mekong, einer der längsten Flüsse weltweit, werden die Auswirkungen besonders deutlich. Die zahlreichen Staudämme entlang des Flusses liefern zwar Strom. Sie verändern aber den Fluss und damit die Umgebung, erklärt einer der Studienautoren Klement Tockner, Präsident des österreichischen Wissenschaftsfonds. „Das heißt, Stauseen halten die Sedimente zurück, dadurch kommt es zur Erosion in den Deltaregionen und Salzwasser fließt in die Landschaft.“

Rio Araguaia und Rio Coco in Brasilien

Day's Edge Productions / WWF-US

Rio Araguaia und Rio Coco in Brasilien

Die Folge davon: Die Anbaugebiete im Delta versalzen, die Fischarten werden weniger, der Fischfang nimmt ab und Überschwemmungen bzw. Dürren werden häufiger, so der Gewässerökologe. Auch in Österreich gibt es nur wenige Abschnitte, an denen Flüsse noch in ihren natürlichen Bahnen fließen. Etwa entlang der Salza, dem oberen Lech oder der Donau zwischen Wien und Bratislava. „Dieser Donauabschnitt liegt zwar heute in einem Nationalpark, dennoch ist dieser natürlich massiv verändert. Es ist ein kanalisierter und durch Abwässer belasteter Flussabschnitt, aber es ist trotzdem einer der letzten naturnahen Abschnitte, die es in Österreich gibt.“

Die Studie

Mapping the world’s free-flowing rivers, Nature (8.5.2019).

Ö1-Sendungshinweis

Diesem Thema widmen sich auch das Frühjournal und die Nachrichten am 9.5.

12 Millionen Flusskilometer untersucht

Insgesamt haben der Forscher und seine Kollegen weltweit 12 Millionen Flusskilometer mithilfe von Satellitenbildern sowie Daten über Kraftwerke, Naturschutzgebiete und Straßen analysiert und dabei etwa 2,8 Millionen Dämme gezählt. „Wir wissen jetzt erstmals über alle diese Flüsse, wie weit sie mit dem Umland verbunden sind und wie weit sie freifließend sind.“

Demnach fließt nur ein Drittel der längsten Flüsse (länger als 1.000 km) ungehindert – ohne Schleusen, Staudämme oder andere Verbauungen. Rechnet man alle Flüsse zusammen, auch die kürzeren, ist es etwa ein Viertel. Im Grunde ist das aber eine konservative Schätzung. Es könnte noch mehr gestaute und umgelenkte Flüsse geben. Denn für kleine Zubringerflüsse fehlen zum Teil genaue Daten, so der Forscher. „Tendenziell sind kleinere Flüsse aber eher weniger gestaut und beeinflusst als große.“

“Großen Verlierer des Pariser Klimaabkommens“

Sucht man große Ströme, die weitgehend unbeeinflusst sind, muss man vor allem in unbewohnten Gebieten der Arktis, dem Amazonasgebiet sowie im Kongobecken nachsehen. Als naturnah gelten auch noch viele Flüsse im Kaukasus, Himalaja sowie in den Balkanstaaten. Bis jetzt, denn in vielen dieser Gebiete werden aktuell 3.700 Wasserkraftwerke geplant oder bereits gebaut. Tockner sieht Flüsse deshalb als die „möglichen großen Verlierer des Pariser Klimaabkommens“. Denn auf der Suche nach erneuerbarer Energie wird die Biodiversität in den Flüssen aufs Spiel gesetzt, kritisiert der Forscher – und mehr noch: „Man muss bedenken, die Wasserkraft ist zwar eine erneuerbare Energiequelle, es ist aber keine klimaneutrale Energiequelle, da in Stauseen viel CO2 und Methan freigesetzt wird. Vor allem in den Tropen und Subtropen.“

Der Tagliamento im Friaul/Italien zählt zu den letzten Wildflüssen Europas

Klement Tockner

Der Tagliamento im Friaul/Italien zählt zu den letzten Wildflüssen Europas

Auch hierzulande sind zahlreiche Kleinkraftwerke geplant oder werden gebaut. Nützlich sind diese nicht immer, betont Tockner. „Jedes Kleinkraftwerk hat für sich eine geringe Auswirkung. Wenn sie aber zehn Kleinkraftwerke in einem Flusssystem haben, summiert sich das. Im Moment verlieren wir auch noch die letzten naturnahen Flüsse bzw. Bäche.“ Der Energiegewinn aus solchen Kraftwerken sei vergleichsweise gering und trägt wenig zur Energiesicherheit bei, ergänzt der Forscher.

Wasserkraft richtig machen

Letztlich geht es nicht um die Frage: Wasserkraft ja oder nein, sondern darum, wo man Dämme baut und wie man die Kraftwerke betreibt, macht der Forscher deutlich. „Wir müssen Prioritäten setzen: Welche Flüsse will und muss man erhalten, welche renaturieren und welche Flüsse verwendet man in erster Linie für die Energieversorgung.“ Bei diesen Entscheidungen sollen unter anderem die Erkenntnisse des internationalen Forschungsteams helfen. Auch wie sich bestimmte Maßnahmen auf Flusssysteme auswirken können, soll mithilfe des globalen Flussdatensatzes vorab abgeschätzt werden können. „Es muss uns klar sein, dass Naturschutz letztlich auch Menschenschutz bedeutet.“

So reinigen intakte Flusssysteme das Wasser und sichern somit die Trinkwasserversorgung, dämpfen Hochwässer ab, versorgen die Landwirtschaft mit Wasser, sind eine Nahrungsquelle für Fische und somit auch für den Menschen und sind nicht zuletzt auch Energielieferanten, so Tockner. Wie der kürzlich veröffentlichte „Living Planet Index“ zeigt, schrumpft die biologische Vielfalt in Binnengewässern derzeit um das drei- bis sechsfache stärker als in marinen und terrestrischen Systemen.

Ruth Hutsteiner, Ö1-Wissenschaft

Mehr zu diesem Thema: