„Wir messen den Puls der Erde“

Wissenschaftliches Großaufgebot in Mailand: Beim Living Planet Symposium der ESA suchen Forscherinnen und Forscher nach Auswegen aus der Klima- und Umweltkrise. Nur: Wer schenkt ihren Expertisen Gehör?

4.000 Teilnehmer haben die Organisatoren im futuristisch gestalteten Mailänder Kongresszentrum gezählt, die Veranstaltung der Europäischen Weltraumagentur beginnt mit bombastischen Klängen und Bildern von im Weltraum schwebenden Satelliten. Dann ist die prominent besetzte Eröffnungsrunde am Wort, ESA-Generaldirektor Jan Wörner nimmt in seinem Vortrag anlassgemäß die Vogelperspektive ein und spricht über die Gemengelage an Herausforderungen, die auf die Weltgemeinschaft in den nächsten Jahrzehnten zukommen. Klimawandel, Energie, Umweltressourcen, Migration und Kommunikation – all diese Bereiche seien nicht isoliert zu betrachten, betont Wörner.

Bild vom Living Planet Symposium: zwei Planeten unterhalten sich ...

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ESA-Chef Wörner bedient ein medizinisches Bild

Die Daten der 15 Erdbeobachtungs-Satelliten der ESA seien für eine Bestandsaufnahme essenziell, 25 weitere sollen in den nächsten Jahren folgen. Dann bedient er ein medizinisches Bild: „Wir messen den Puls des Planeten“, sagt der ESA-Chef, um danach einen alten Witz zum Besten zu geben. Der geht so: Treffen sich zwei Planeten, der eine ist gesund und blau; der andere, offenbar schmutzig und siechend, klagt: „Ich habe Homo sapiens.“ Darauf der erste: „Ach so, das geht vorbei.“

„Our house is on fire“

Der Österreicher Josef Aschbacher, Direktor des Earth Observation Programmes der ESA, konkretisiert in seinem Vortrag die geomedizinische Diagnose mit Satellitenaufnahmen vom 8. August 2017. Darauf zu sehen: Ausgedehnte Brände und Rauchwolken auf Grönland, der Permafrostboden ist dort offenbar in weiten Bereichen aufgetaut. Ähnlich eindrücklich fällt die - ebenfalls auf Satellitendaten basierende - Bezifferung des globalen Eisverlusts aus. Zwischen 1961 und 2016 sind weltweit 9.600 Milliarden Tonnen Gletschereis geschmolzen – „wir erwarten, dass der Meeresspiegel bis 2100 um 1,5 Meter steigt. Mit entsprechenden Konsequenzen für die Küstenstädte“, so Aschbacher. „Die Häuser werden unter Wasser stehen.“

Bild vom Living Planet Symposium: Brände auf Grönland

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Brände auf Grönland

Angesichts der Bilder von den Bränden auf Grönland werden auch Erinnerungen wach an einen Satz, den die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg im Jänner beim World Economic Forum (WEF) in Davos vor versammelter Weltöffentlichkeit sagte: „Our house is on fire.“ Die Politik, so sprach Thunberg ihren Zuhörern vor dreieinhalb Monaten ins Gewissen, habe im Umgang mit dem Klimawandel versagt, ebenso die Medien bei ihrem Auftrag, die Dringlichkeit des Problems darzustellen.

Solch deutliche Worte hört man von Vertretern der wissenschaftlichen Elite selten. Und so nimmt es nicht wunder, dass der emotional wirklich aufrüttelnde Beitrag der Opening Session von einem Vertreter der Zivilgesellschaft kommt, vom Gymnasiasten und Klimaaktivisten Jakob Blasel.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag im Journal um Acht, 14.5., 8.00

„Wer behauptet, die Klimapolitik der EU sei ambitioniert, der lügt“, sagt der deutsche Vertreter der Bewegung „Fridays for Future“ bei seiner Rede ins Mikrofon. „Ich bin eine jener Personen auf diesem Planeten, die noch Jahrzehnte mit den Konsequenzen der Klimakrise leben müssen. Die Mächtigen nehmen das Problem nicht ernst, weil sie keinen Grund dafür haben. Aber wir Jungen haben einen Grund.“ Damit ist ein entscheidender Punkt angesprochen: Daten über den Zustand der Erde sind unverzichtbar für eine nüchterne Bestandsaufnahme. Doch diese Erkenntnisse müssen sich auch übersetzen in politisches Handeln. Findet die Stimme der Wissenschaft außerhalb eines Fachkongresses kein Gehör, hat sie in gewisser Hinsicht auch versagt.

Robert Czepel, science.ORF.at

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