Haben Tiere Selbstbewusstsein?

Sich selbst im Spiegel erkennen: Wenn Tiere das können, wird ihnen oft Selbstbewusstsein zugesprochen. Doch wenn unklar ist, was dieser Begriff eigentlich bedeuten soll, bleibt der „Spiegeltest“ umstritten, meint der Philosoph Fabian Estermann.

Diese Frage wissenschaftlich zu beantworten, dafür braucht es u.a. ein geeignetes Nachweisinstrument. Nicht wenige erhoffen sich, durch den sogenannten Markierungstest Einblicke in die kognitiven Fähigkeiten von Tieren zu gewinnen und ein vorhandenes Selbstbewusstsein nachzuweisen. Der Test wurde erstmals 1970 von Gordon G. Gallup jr. entwickelt und mit Schimpansen (Pan troglodytes) durchgeführt.

Fabian Estermann

IFK

Über den Autor

Fabian Estermann studierte Philosophie und Soziologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und ist derzeit Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK).

In der ursprünglichen Variante des Markierungstests wurden einer Gruppe Schimpansen unter Narkoseeinfluss zwei geruchslose Farbmarkierungen im Gesicht angebracht, die sie nur mit Hilfe eines Spiegels würden sehen können. Die Narkotisierung sollte ausschließen, dass die Tiere Kenntnis von der Anbringung der Farbmarkierungen erlangten. Nachdem sich die Tiere von der Narkose erholt hatten, wurde ein Spiegel einbezogen, mit dessen Eigenschaften sie sich im Vorfeld des Tests für zehn Tage vertraut machen durften. Versuchten die jeweiligen Tiere nun, in Anbetracht des Spiegelbildes die Farbmarkierungen an sich wegzuwischen oder zu inspizieren, galt der Test als bestanden. Damals wie heute wird ein solch selbstbezügliches Verhalten gemeinhin als Indiz für ein vorhandenes Selbstbewusstsein beim betreffenden Individuum gewertet: Immerhin scheint ein erfolgreich absolvierter Markierungstest zu implizieren, dass das Individuum sich selbst im Spiegel erkannt hat. Alle vier Schimpansen berührten übrigens umgehend die Farbmarkierungen an sich. Menschenkinder bestehen den Markierungstest im Regelfall ab dem 18. Lebensmonat.

Rhesusaffe vor dem Spiegel

Neng Gong and colleagues/ Current Biology

Rhesusaffe vor dem Spiegel

Konjunktur des Markierungstests – und seiner Kritik

An immer mehr Tierarten wurde und wird bis in die Gegenwart ein solcher Markierungstest – oder Abwandlungen davon – durchgeführt. So zuletzt an einzelnen Ameisenarten (2015), Mantarochen (2016), Hauspferden (2017) und Putzerlippfischen (2018), um nur einige zu nennen. In der Regel sind die jeweiligen Experimentatorinnen und Experimentatoren davon überzeugt, dass ihre Tiere den Spiegeltest bestanden haben.

Häufig jedoch lässt die Kritik an einer solchen Interpretation nicht lange auf sich warten, und es entspinnt sich ein regelrechter Schlagabtausch in den einschlägigen Forschungsjournalen. Hinterfragt werden nicht nur die korrekte Anwendung der Methode und die Beschreibung des Verhaltens, sondern auch die These, wonach ein bestandener Test notwendigerweise ein vorhandenes Selbstbewusstsein beim betreffenden Individuum impliziert. Seit Bestehen des Markierungstests lässt sich dabei zwischen Proponenten und Opponenten dieser These keine Annährung beobachten.

Komponenten einer wissenschaftlichen Forschungsfrage

Indes wird in den Diskursen erstaunlich selten thematisiert, dass eine jede wissenschaftliche Forschungsfrage zwei Komponenten aufweist: eine empirische und eine begrifflich-philosophische. Wie der Philosoph Arno Ros in seinem Werk „Materie und Geist: Eine philosophische Untersuchung“ eindrücklich darlegt, fungieren Begriffe immer auch als Maßstäbe zur Einordnung von Gegenständen als Gegenstände einer bestimmten Art.

Veranstaltungshinweis:

Am 20.5. hält Fabian Estermann den Vortrag: “Affen und Spiegel: Der Begriff des Selbstbewusstseins in der vergleichenden Psychologie“. Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 18.15 Uhr

Die empirische Aufgabe, Tiere mit geeigneten Mitteln in die Kategorien „Selbstbewusstsein-habend“ und „Nicht-Selbstbewusstsein-habend“ einzuteilen, kann nur Erfolge zeitigen, wenn hinreichend klar ist, was unter dem Begriff „Selbstbewusstsein“ sinnvollerweise verstanden werden sollte – eine begrifflich-philosophische Aufgabe. Erst daraufhin lassen sich geeignete Instrumente zum Nachweis von Selbstbewusstsein entwickeln bzw. die Leistungsfähigkeit vorhandener Instrumente beurteilen. Um die offene Frage nach einem vorhandenen Selbstbewusstsein bei Tieren zu beantworten, reicht ein Mehr an empirischer Forschung nicht aus: Solange der Forschung kein klares Begriffsverständnis von Selbstbewusstsein zugrunde liegt, bleibt völlig offen, wonach eigentlich gesucht wird.

Putzerfisch sieht sein Spiegelbild

Alex Jordan

Putzerfisch im Spiegel

Der Begriff des Selbstbewusstseins

In der heutigen Debatte um Selbstbewusstsein gibt es keinen Konsens darüber, was sinnvollerweise unter dem Begriff „Selbstbewusstsein“ verstanden werde sollte. Manche am Diskurs Beteiligte bestreiten grundsätzlich die Sinnhaftigkeit eines solchen Begriffs, andere hingegen verstehen darunter den Besitz einer umfassenden Theorie über das eigene Ich. Wiederum andere bewegen sich mit ihrer Begriffsauffassung zwischen diesen zwei Polen.

Und so überrascht es kaum, dass auch die Interpretationen von Ergebnissen durchgeführter Markierungstests weit auseinander gehen und keine Einigung in Sicht scheint. Solange der Maßstab zur Einordnung von Tieren in „Selbstbewusstsein-habend“ und „Nicht-Selbstbewusstsein-habend“ unterschiedlich ausgelegt wird, solange lassen sich auch nicht Dispute über faktisch vorgenommene Einordnungen von Tieren in eine dieser beiden Kategorien beilegen. Stärker Augenmerk auf die Klärung des Maßstabs, also des Begriffs „Selbstbewusstsein“, zu legen, scheint vor dem hier skizierten Hintergrund ein dringendes Gebot.

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