Der Vater des „Gottesteilchens“ wird 90

Beim Wandern in den schottischen Bergen kam er dem „Gottesteilchen“ auf die Spur. Fast ein halbes Jahrhundert später bekam Peter Higgs dafür den Physik-Nobelpreis. Auch mit 90 Jahren bleibt er bescheiden und meidet die Öffentlichkeit.

Peter Higgs ist die Zuerkennung des Physik-Nobelpreises ein bisschen peinlich: Sein Name sei eher zufällig mit dem Higgs-Teilchen verbunden worden - es sei doch eine Gruppenleistung gewesen, sagte der bescheidene Brite vor knapp sechs Jahren im Nobelpreis-Rummel. Und fügte hinzu: „Ich bekomme den Preis für etwas, für das ich 1964 zwei oder drei Wochen gebraucht habe. Das war nur ein sehr kleiner Teil meines Lebens.“

Heute, am 29. Mai, wird Higgs 90 Jahre alt. Interviews wollte er nicht geben, wie eine Sprecherin der Universität Edinburgh mitteilte. Er beschäftige sich lieber mit Musik, Filmen und Büchern.

„Entdeckung des Jahrhunderts“

Seine Idee damals: So wie Gravitation Dingen ihr Gewicht verleiht, geben Urteilchen ihnen ihre Masse. Die Idee kam ihm beim Wandern in Schottland. Nicht sofort wurde er ernst genommen. Sein erster Aufsatz darüber wurde in den „Physics Letters“ noch nicht einmal abgedruckt.

Der Durchbruch gelang erst Jahrzehnte später, 2012, am Europäischen Kernforschungszentrum (Cern) in der Schweiz. „Manchmal ist es nett, recht zu haben“, meinte Higgs trocken im Fachblatt „New Scientist“.

Mit Frack am Rednerpult: Peter Higgs hält am 10. Dezember 2013 in Stockholm seine Nobelpreisrede

JONATHAN NACKSTRAND / AFP

Dezember 2013: Peter Higgs spricht bei der feierlichen Übergabe der Nobelpreise in Stockholm

„Die Entdeckung des Jahrhunderts“ nennt der Freiburger Cern-Physiker Karl Jakobs den Nachweis des Higgs-Teilchens. „Die Frage, wie man Masse von Elementarteilchen erklärt, war Jahrzehnte das größte Problem der Physik“, sagt er. Higgs Theorie zu beweisen sei die Hauptmotivation für den Bau des Cern-Teilchenbeschleunigers gewesen. Als die Entdeckung des Higgs-Teilchens am 4. Juli 2012 am Cern in Genf verkündet wurde, war Higgs dabei. Eine Sternstunde der Physik.

Der unsichtbare Sirup im Raum

Was macht den Beweis seines Teilchens so spektakulär? Die Theorie von Higgs und Englert beantwortet eine wichtige Frage über das Universum: Was verleiht allen existierenden Dingen ihre Form und Größe? Oder anders: Ohne Higgs-Teilchen gäbe es keine Masse im Universum.

Der Higgs-Mechanismus funktioniert wie eine Art Sirup, der an Elementarteilchen klebt, sie abbremst und ihnen so Masse verleiht. Das Higgs-Feld, der Sirup, zeigt sich über das Higgs-Teilchen.

Ein Verleger bezeichnete das Higgs-Boson reißerisch als „Gottesteilchen“. Das gefiel weder dem Namensgeber noch anderen Teilchenforschern. „Erstens bin ich Atheist“, begründete Higgs in einem BBC-Interview seine Ablehnung. „Zweitens ist mir bewusst, dass der Name als Witz gemeint war - und zwar kein besonders guter.“

Pressekonferenz an der University of Edinburgh: Peter Higgs steckt seinen Kopf durch einen Vorhang

GRAHAM STUART / AFP

Der schottische Physiker gilt als öffentlichkeitsscheu

Trotzdem: Das „Gottesteilchen“ ist vielen Menschen ein Begriff. Es war einer der letzten unbekannten Bausteine im Standardmodell der Teilchenphysik. Es gebe weitere offene Fragen, sagt Jakobs. Etwa, was die Natur der dunklen Materie ist oder wie die Asymmetrie zu erklären ist, das Fehlen vom Gegenstück der Materie, von Antimaterie. „Die Lösungen könnten sich in der exakteren Messung von Higgs-Teilchen verbergen.“

Teilchenjagd: Cern rüstet auf

Dafür ist eine noch stärkere Maschine mit noch mehr Energie nötig. Denn das Higgs-Teilchen zu produzieren ist schwierig: Es entsteht nur ein einziges Teilchen bei rund einer Billion Protonenkollisionen. Das Cern rüstet seinen Teilchenbeschleuniger deshalb jetzt auf. Das HiLumi-Projekt soll in ein paar Jahren 25 Mal so viele Daten liefern wie bislang möglich.

Higgs hat viele Preise und Ehrentitel gewonnen, aber den Ritterschlag zum „Sir“ lehnte er 1999 ab. Es sei zu früh dafür gewesen, sagte er später, und sowieso wolle er einen solchen Titel nicht. Auch sonst ist Higgs immer ein kritischer Geist gewesen: Als er 2004 in Israel mit dem Wolf-Preis ausgezeichnet wurde, blieb er der Verleihung aus Protest gegen die Palästinenser-Politik Israels fern.

Er war ein Anhänger der Anti-Atomwaffen-Bewegung - aber als diese sich auch gegen die zivile Nutzung der Atomkraft richtete, war Schluss damit. Greenpeace unterstützte er bis zu dem Zeitpunkt, als die Organisation sich gegen den Einsatz der Gentechnik positionierte.

Techniker arbeitet unterirdisch am Teilchenbeschleuniger LHC

CERN/Maximilien Brice, Julien Marius Ordan

Werden die Forscher am Cern neue Teilchen finden?

Wenn das HiLumi-Projekt 2025/26 an den Start geht, ist Higgs am Cern wieder in aller Munde. Zum einen wollen die Physiker das Higgs-Teilchen weiter vermessen und nach Abweichungen von ihren Messungen suchen, die sie vielleicht auf die Spur der dunklen Materie bringen.

Zum anderen suchen sie nach neuartigen Teilchen, womöglich auch neuen Higgs-Teilchen, sagt Jakobs. Higgs könnte bei seinen Wanderungen in Schottland vor mehr als einem halben Jahrhundert den Grundstein für weitere bahnbrechende Entdeckungen gelegt haben.

science.ORF.at/dpa

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