Wie ein Krieger zur Kriegerin wurde

Erst seit wenigen Jahren steht fest: Im Grab eines Wikingerkriegers liegt eigentlich eine Kriegerin. Der Fund erzählt einiges über ihr mögliches Leben, aber auch viel darüber, wie Vorstellungen der Gegenwart die Interpretation der Vergangenheit prägen.

Speere, eine Axt, ein Schwert, zwei Pferde und ein Brettspiel: Die Beigaben des berühmten Grabes BJ 581 im schwedischen Birka erzählten mehr als 100 Jahre lang die scheinbar offensichtliche Geschichte eines hochangesehenen Wikingerkriegers. Für die Forscher, die das Grab im Jahr 1878 entdeckten, war sonnenklar: Es handelt sich um einen Mann. Erst mehr als ein Jahrhundert später wurde diese Annahme von der schwedischen Forscherin Charlotte Hedenstierna-Johnson und ihrem Team in Frage gestellt und überprüft.

Das berühmte Grab BJ 581 in Birka

ORF/Urban Canyons 2019/Evald Hansen/Bethman

Das berühmte Grab BJ 581 in Birka

Das Ergebnis der DNA- und Isotopenanalyse wurde im Herbst 2017 weltweit als Sensation gefeiert. Bei dem Skelett aus dem berühmten Wikingergrab handelt es sich tatsächlich biologisch um eine Frau – und noch dazu um eine, die sehr viel unterwegs war. Für Hedenstierna-Jonson bedeutet das, den Wikingerkriegerinnen in der Geschichtsschreibung ihren Platz zu geben: „Es ist Zeit, die wahre Rolle der Frauen in der Wikingergesellschaft anzuerkennen und die Geschichte umzuschreiben.“

Technologien widerlegen Vorurteile und Klischees

Für die Archäologin Katharina Rebay-Salisbury vom Institut für Orientalische und Europäische Archäologie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist allerdings nicht die Erkenntnis, dass es sich beim Birka-Skelett um eine Frau handelt, das Außergewöhnliche, sondern die Tatsache, dass dies erst so spät überhaupt hinterfragt wurde. Dies sage viel über das Rollenverständnis der Gegenwart aus: „Erst als wirklich DNA-Analysen gemacht worden sind, wurde diese ganze Geschichte ernst genommen“.

Eine Isotopenanalyse der Backenzähne zeigte, dass die Frau viel unterwegs war

ORF/Urban Canyons 2019/Sebastian Peiter

Eine Isotopenanalyse der Backenzähne zeigte, dass die Frau viel unterwegs war

Man hielt es mehr als hundert Jahre lang schlicht nicht für möglich, dass das Skelett im Grab von Birka weiblich sein könnte – wie auch die Archäologin Martina Nothnagl in ihrem Blog feststellt: „Wer sich eine Welt, in der Frauen den Männern gleichgestellt sind, nicht vorstellen kann, kann sie auch in den archäologischen Funden nicht erkennen.“

Obwohl bereits zuvor in Norwegen Gräber von bewaffneten Frauen gefunden worden waren, veränderte die Entdeckung von Birka das aktuelle Bild der Wikinger: Kämpfende Heeresführerinnen wurden von mystischen Wesen aus dem Reich der Sagas, Legenden und Serien plötzlich zu realen historischen Figuren: Kriegerinnen, die ihr Leben nicht mit Hausarbeit und Kinderaufziehen verbrachten, sondern in Schlachten zogen.

Wissenschaftlicher Zündstoff

Die Ergebnisse der Untersuchungen von 2017 lösten allerdings nicht nur Begeisterung, sondern auch eine hitzige Debatte aus: Von mehreren Seiten wurden Charlotte Hedenstierna-Jonsons Ergebnisse in Zweifel gezogen. Die Professorin für Wikingerstudien Judith Jesch von der Universität Nottingham beispielsweise vermutete, dass die untersuchten Knochen verwechselt worden und aus einem anderen Grab stammen könnten. Andere hielten den Jubel für überzogen und taten ihn als feministisches Wunschdenken ab.

Sendungshinweise

Den Kriegerinnen aus dem Norden widmet sich auch ein Universum History, „Die Wikinger-Kriegerin – Amazone des Nordens“, 7.6., 22:35 ORF 2, ein Beitrag in Mittag in Österreich und ein Beitrag im Mittagsjournal um 12:00.

Im Februar 2019 veröffentlichten Charlotte Hedenstierna-Jonson und ihr Team schließlich einen weiteren Artikel, in dem sie das Ergebnis begründeten und die Kritik an der möglicherweise falschen Zuordnung der Knochen widerlegen konnten. Die Debatte hat dennoch auch für eine vielleicht notwendige Ernüchterung gesorgt. Denn allein die Tatsache, dass die hochrangige Kriegerpersönlichkeit eine Frau war, bedeutet noch nicht, dass die Wikingergesellschaften ein Paradies der Gleichberechtigung waren – im Gegenteil. Es waren komplexe, hierarchische Gefüge, in denen Frauen zwar erbberechtigt waren und die Scheidung einreichen konnten, aber dennoch mehrheitlich für den privaten und familiären Bereich zuständig waren. Alles andere bildete die Ausnahme.

Universum History: Die Wikinger-Kriegerin - Amazone des Nordens

Rotbärtig, furchtlos, brutal. Das ist das gängige Klischee der Wikinger - jener Seefahrer aus dem Norden, die vom 9. bis zum 11. Jahrhundert mit ihren räuberischen Kriegszügen Europa in Angst und Schrecken versetzten. Ein archäologischer Sensationsfund stellt dieses Bild nun aber gänzlich auf den Kopf: eine Grabstätte, in der eine Frau mit Waffen und ihren Pferden bestattet wurde, beweist, dass offenbar auch Frauen hohe soziale Positionen innehatten.

Und nicht nur die Kategorie Geschlecht definierte die Hierarchien: „Es gab sicher gesellschaftliche Unterschiede, die den Geschlechterunterschied noch mal übertrumpft haben. Als hochgestellte Wikingerfrau hatte man wahrscheinlich einen anderen Zugang zu Rechten und Ressourcen als als Sklavin“, so Katharina Rebay-Salisbury. Mit dem sensationellen Grabfund ist zwar belegt, dass es hochrangige Kriegerinnen gab – die Norm dürfte es in der männerdominierten Wikingerwelt des ersten Jahrtausends nach Christus aber nicht gewesen sein.

Kriegerinnen und Bergfrauen

Die Kriegerin von Birka ist nicht das einzige Beispiel, das die Geschichte mit Blick auf die Geschlechterrollen neu schreiben lässt. Auch das weltberühmte Gräberfeld von Hallstatt hat Erstaunliches zutage gebracht: die Anthropologin Doris Pany-Kucera hat die Knochen der bestatteten Bergleute untersucht, die in der Eisenzeit im Inneren des Berges Salz abbauten. Sie fand heraus, dass Bergfrauen genauso harte Arbeit unter Tag leisteten wie Bergmänner. Dies belegten Muskelmarker an den Knochen der weiblichen Skelette. Zusätzlich wurden Hinweise gefunden, dass sich bereits Kleinkinder im Bergwerk aufhielten – dass also ganze Familien im Bergwerk gearbeitet haben dürften und auch Wohlstand anhäuften, wie die Grabbeigaben vermuten lassen.

Abnützungen an den Knochen zeugen von harter Arbeit der Bergfrauen in Hallstatt

ORF/ Marco Tondolo

Abnützungen an den Knochen zeugen von harter Arbeit der Bergfrauen in Hallstatt

Ein weiteres Beispiel sei eine Studie von Fingerabdrücken auf frühzeitlichen Tongefäßen aus Franzhausen wie Katharina Rebay-Salisbury erzählt. Man nehme grundsätzlich an, Töpferarbeit sei etwas typisch „Weibliches“, ein Haushandwerk, das die Frauen nebenbei mit den Kindern erledigten. 80 Prozent der untersuchten Fingerabdrücke auf den Tongefäßen stammten aber von Männern. „Erst wenn wir diese Daten haben, können wir sinnvoll diskutieren, wie Arbeit aufgeteilt wurde und wer beim Arbeitsprozess in welche Schritte involviert war“, so die Archäologin.

Feministische Archäologie

Die Forscherin ist Mitglied beim Netzwerk archäologisch arbeitender Frauen, „FemArc“, das in den 1990er-Jahren gegründet wurde und die Verbreitung von Fachwissen über feministische Archäologie zum Ziel hat. Frauen sollen sichtbar gemacht werden – sowohl als Forschende, als auch als Akteurinnen der Vergangenheit.

Im prähistorischen Bergwerk von Hallstatt arbeiteten nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder

ORF/NHM/ Scenomedia

Im prähistorischen Bergwerk von Hallstatt arbeiteten nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder

Durch den männlichen Blick festgeschriebene Rollenbilder sollen zurechtgerückt werden: „Vor Beginn der Gender-Archäologie hat man im Museum Bilder gesehen, auf denen Männer alles mögliche Tolle tun und die Frauen daheim sitzen und im Kochtopf rühren. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr geändert“, erzählt Rebay-Salisbury. Sie sieht in der Archäologie ein Werkzeug, das eigene Verständnis wie in einem Spiegel anzuschauen und zu überdenken – denn Archäologie und Geschichtsschreibung beinhalten immer auch Interpretation. Und die speist sich aus den Weltbildern der jeweiligen Zeit.

Rätsel und Interpretation

Auch die Erzählung von der hochrangigen Wikingerkriegerin aus Birka ist nicht mehr als eine Interpretation. Fakt ist, dass das Skelett biologisch weiblich ist und die Grabbeigaben und die Kleidung, mit der die Frau bestattet wurde, „männlich“ konnotiert sind - über das tatsächliche Leben der bestatteten Person sagt dies aber genaugenommen nichts aus, so Rebay-Salisbury: „Es könnte zum Beispiel bedeuten, dass die Frau wirklich die Rolle gewechselt hat und als Mann gelebt und gekämpft hat und daher so bestattet wurde. Es könnte aber auch heißen, dass vielleicht irgendwo ein Erbe gefehlt hat und diese Person im Grabbrauchtum für jemanden anderen eingesprungen ist“.

Die Wikinger waren patriarchale Gesellschaften, Frauen aber nicht rechtlos

ORF/Urban Canyons 2019/Sebastian Peiter

Die Wikinger waren patriarchale Gesellschaften, Frauen aber nicht rechtlos

Wie das Leben der Frau aus Birka wirklich war, wird man wohl nie erfahren und bleibt zum Teil der Fantasie überlassen. Die Tatsache, dass aus dem Krieger eine Kriegerin wurde, zeigt aber vor allem deutlich, wie sich unsere Gesellschaft im Lauf des letzten Jahrhunderts verändert hat, wie die Archäologin Martina Nothnagl in ihrem Blog schreibt: „War eine Frau als militärische Anführerin im späten 19. Jahrhundert noch so undenkbar, dass nicht einmal das Geschlecht der Skelette bestimmt wurde, ist die Situation heute eine ganz andere. Unabhängige, emanzipierte Frauen sind heute (auch) Realität – und haben so eine Chance, als solche erkannt zu werden.“

Caroline Haidacher, Universum History, Mitarbeit: Leonie Markovics

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