Die Vermessung der Ehrlichkeit

Wie ehrlich verhalten sich Menschen im Alltag? Weil Laborversuche wenig über das echte Leben erzählen, haben Ökonomen die Bewohner von 355 Städten mit „verlorenen“ Brieftaschen geködert - und völlig überraschende Reaktionen beobachtet.

Eine Frau kommt ins Museum, tritt an den Schalter und zeigt dem Ticketverkäufer ein Täschchen. Darin befinden sich: ein Schlüssel, eine Visitenkarte und Geld. „Hallo, ich habe das hier auf der Straße gefunden. Jemand muss das verloren haben“, sagt sie und legt das Fundstück auf den Tisch. Dann verabschiedet sie sich mit den Worten: „Ich bin in Eile - könnten Sie sich darum kümmern?“ Was der Mann im Museum nicht weiß: Niemand hat ein Täschchen verloren. Und die Frau ist auch nicht zufällig hier, sie ist Teil eines wissenschaftlichen Experiments.

Versuchung stärkt die Moral

Dieser Versuch, ausgeheckt von einem Team um den Schweizer Ökonomen Michel Maréchal, wurde erstmals vor sechs Jahren in Finnland durchgeführt. Eigentlich waren es zwei verschiedene Versuche, denn die Forscher spielten das Ganze auch in der Variante „Börse ohne Geld“ durch, um zwei Grundsatzfragen zu klären: Wie ehrlich verhalten sich Menschen im Alltag? Und sind sie durch finanzielle Versuchungen korrumpierbar?

Das Ergebnis hatten die Wissenschaftler jedenfalls so nicht erwartet: Die Angestellten aus dem Museum kontaktierten den Besitzer nämlich häufiger, wenn sich in seiner Börse Bares befand. Laut herkömmlicher ökonomischer Theorie sollte es eigentlich umgekehrt sein, sagt Christian Zünd von der Uni Zürich, ein Forscherkollege von Maréchal. „Das war damals eine kleine Untersuchung. Wir wussten nicht, ob wir den Ergebnissen wirklich vertrauen können.“

Experiment mit 17.000 Brieftaschen

Daher haben Maréchal, Zünd und ihre Kollegen das Experiment noch einmal im großen Stil wiederholt, in 355 Städten aus 40 Ländern quer durch alle Kulturkreise, in Deutschland, Frankreich und den USA ebenso wie in Ghana und Mexiko. Um den Versuch gegen Verzerrungen abzusichern, variierten die Forscher auch die Orte des Geschehens, verteilten die standardisierte Geldbörse auch in Postämtern, Banken, Hotels und Gerichtsgebäuden. 17.000-mal insgesamt.

Inhalt einer Brieftasche: Schlüssel, Geld, Visitenkarte und Einkaufszettel

Christian Zünd

Der Inhalt der Brieftaschen wurde an die Sprache und Kaufkraft der untersuchten Länder angepasst

Die Auswertung, aktuell veröffentlicht im Fachblatt „Science“, bestätigt die Ergebnisse der finnischen Studie: War kein Geld in der Tasche, schrieben 40 Prozent der Probanden eine E-Mail an den Besitzer von Schlüssel und Visitenkarte, um ihn von dem Fund zu informieren. Mit Geld waren es 51 Prozent.

Ehrliche Dänen

Die Studie liefert auch ein paar interessante länderspezifische Details: Am ehrlichsten sind laut Untersuchung die Dänen, sie nahmen in zwei Drittel aller Fälle Kontakt mit dem Besitzer auf (mit Geld in der Börse waren es sogar 82 Prozent).

In China indes meldeten sich nur sieben (ohne Geld) bzw. 22 Prozent (mit Geld). Der Trend ist jedenfalls in allen Ländern gleich: Die Scheine im Börsel stärken offenbar die moralische Standhaftigkeit.

Der Egoismus hat Grenzen

Das zeigt, dass mit dem Konzept des Homo oeconomicus etwas nicht stimmt. Die Theorie geht davon aus, dass der Mensch stets nach seinem eigenen finanziellen Vorteil strebt. Diese Annahme findet immer noch Eingang in viele Wirtschaftsmodelle, nicht zuletzt deshalb, weil dadurch die mathematischen Gleichungen einfacher werden. Das Problem ist nur: Die Annahme trifft eben nicht immer zu – wie durch das Brieftaschenexperiment zu beweisen war.

„Menschen kümmern sich schlichtweg um andere. Sie denken, dass der Schlüssel für den Besitzer wichtig ist – das ist der eine Teil der Erklärung“, sagt Zünd im Gespräch mit dem ORF. „Der zweite Teil hat mit dem Selbstbild der Probanden zu tun. Sie wollen sich nicht als Diebe fühlen.“ Das erklärt, warum finanzielle Versuchungen die Ehrlichkeit stärken können. Der Mensch ist egoistisch, aber er ist auch - vielleicht sogar vor allem - ein Homo socialis, ein mitfühlendes Wesen, wie schon Aristoteles wusste.

Die experimentelle Bestätigung dieser alten Einsicht ist freilich nicht nur für die akademische Forschung interessant, schließlich hätten Versprechen ohne Ehrlichkeit keinen Sinn und Verträge keinen Bestand. Wäre jeder nur auf den eigenen Vorteil aus, wären Regierungen grundsätzlich korrupt, Steuerhinterziehung die Normalität und das soziale Miteinander wohl eine Farce. Eine teure noch dazu: Laut Erhebungen der Weltbank führt die weltweite Korruption ohnehin schon zu Kosten von 1,3 Billionen US-Dollar pro Jahr – das ist in etwa so viel wie das Bruttoinlandsprodukt von Australien.

Robert Czepel, science.ORF.at

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