Die Täter kamen nicht immer im Marschtritt

Dass sich Historiker für Geräusche interessieren, ist recht neu. Dabei stecken dahinter oft wertvolle Informationen. Ein neues Forschungsprojekt zeigt: Die Verfolger von Juden und Jüdinnen in der NS-Zeit kamen nicht immer im Marschtritt.

Wie hörte sich die Judenverfolgung für die Opfer des Nationalsozialismus an? Den meisten von uns Nachgeborenen kommen wohl zuallererst die Geräusche marschierender Truppen in den Kopf, wenn wir an die Zeit des Nationalsozialismus denken. Das Klappern schwerer Stiefel von marschierenden Nazigruppen, die herumziehen und Häuserblöcke und Wohnungen nach versteckten Jüdinnen und Juden durchsuchen.

Christian Gerlach hat sich mit den Geräuschen beschäftigt, die für verfolgte Jüdinnen und Juden währen der NS-Zeit relevant gewesen waren. Über „Die Tonspur der Verfolgung“ hielt er am 27.6. einen Vortrag am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust Forschung.

Doch das ist ein Irrtum, erklärt Christian Gerlach. Der Historiker hat rund 200 Berichte von Holocaust-Überlebenden aus ganz Europa analysiert und meint: Nur ein Einziger hat diese Art von Marschtritt erwähnt. Oft müssen es Einzelpersonen gewesen sein, die in die Wohnungen kamen. Die versteckten Jüdinnen und Juden hörten also die Durchsuchungen in den Wohnungen neben oder über ihnen. In ihren späteren Berichten ging es meistens darum, dass Menschen in Verstecken aufgestöbert wurden, um sie zur Vernichtung abzutransportieren oder auch an Ort und Stelle zu erschießen.

Akustische Wahrheit

Was bedeutet es nun, dass die späteren Überlebenden von ganz anderen Geräuschen berichten als den uns vermeintlich bekannten marschierenden Truppen? „Die akustische Wahrheit ist: Die Täter hätten damals sehr wohl die Chance gehabt, Menschen in ihrem Versteck bewusst zu übersehen oder ihnen zu helfen“, so Gerlach.

Sie kamen eben nicht in großen Gruppen und waren Befehlen ohnmächtig ausgeliefert, sondern es waren oft Einzelpersonen. Die Täter haben ihre Chance, etwas Gutes zu tun, aber in der Regel nicht genutzt, so Gerlach. „Das heißt, man kann sozusagen hören, dass Leute Handlungsautonomie hatten, und dass sie eigenständige Entscheidungen getroffen haben. Individuelle Beiträge zum Mord. Das kann man hören.“

Nur schriftliche Quellen

Das Hörbild von uns Nachkommen ist von Filmen und Medienberichten über den Holocaust geprägt, meint Gerlach. Er verwendet für seine Forschungen zur Klanggeschichte ausschließlich schriftliches Material. Aus Tagebüchern, Protokollen, Interviews und Schulaufsätzen aus den ersten Jahren nach dem Krieg sucht er Schilderungen von Geräuschen heraus.

Das seien für ihn zuverlässigere Quellen, als etwa Zeitzeugeninterviews in der Gegenwart zu führen: „Die meisten Menschen geben in diesen Niederschriften unbewusst und ganz nebenbei Informationen über Geräusche wieder.“ Das und die zeitliche Nähe zum Geschehen selbst schützt laut Gerlach vor verfälschten Erinnerungen, die sich ergeben könnten, wenn Zeitzeugen sich heute an diese Zeit erinnern sollen.

Für sein nächstes Klangforschungsprojekt analysiert Gerlach gerade Dokumente aus der Zeit des Völkermords in Ruanda 1994. Vielleicht ergibt sich auch hier eine neue Perspektive auf ein Ereignis, über das schon viel berichtet wurde.

Hanna Ronzheimer, Ö1-Wissenschaft

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