Das Bild, das die Welt nicht veränderte

Eine legendäre Fotografie, entstanden bei der letzten Apollo-Mission, zeigte den Planeten erstmals in seiner verwundbaren Schönheit. Die „blaue Murmel“ wurde zur Ikone der Umweltbewegung – und bewirkte doch nicht viel.

Am 7. Dezember 1972, genau fünf Stunden und sechs Minuten nach dem Start der Apollo-17-Rakete, richtet Harrison Schmitt seine 70-Millimeter Hasselblad auf jene Luke, die in der engen Raumkapsel die Sicht auf das Weltall freigibt. Inmitten dieser Finsternis ist die Erde zu sehen, im Vergleich zum unendlichen Raum um sie herum wirkt sie klein und verloren.

Es ist ein besonderer Blick, der sich dem US-amerikanischen Astronauten in diesem Moment bietet. Nie zuvor war die Erde vom Weltraum aus so klar zu sehen, der Schatten der Nacht befindet sich vollständig auf der Rückseite des Planeten, die Nordhalbkugel ist weitgehend wolkenfrei, die blauen Ozeane klar abgesetzt von den Kontinenten.

Schmitt drückt ab. Und schießt in diesem Moment eines der einflussreichsten Bilder, das jemals auf Zelluloid gebannt wurde. Das Motiv wird später als „Mona Lisa der Wissenschaftsfotografie“ bezeichnet werden. Vor allem aber geht es als „Blue Marble“ in die Fotografiegeschichte ein.

„Kehrten als Menschenfreunde zurück“

Neben ihrer unbestreitbaren Schönheit ist es vor allem die Symbolik, aus der die „blaue Murmel“ ihre historische Wirkung bezieht: Vom Weltall aus betrachtet erscheinen die Kontinente menschenleer, die Nationengrenzen als trügerische Vorstellungen, der gesamte Erdball schrumpft aus dieser Perspektive zu einer, wie einst Günther Anders notierte, „im Ozean des Raums schiffbrüchig herumschwimmende Boje“.

Der Erdball vom Weltraum aus gesehen

NASA/Apollo 17 crew

So sah Harrison Schmitt die Erde

Der Gedanke, dass die Erde ein Unikat ist, und ein zerbrechliches obendrein, formierte sich erst, als die Menschheit ihren Heimatplaneten verließ und sich in der unerbittlichen Kälte des Universums wiederfand. So gesehen war die Mondmission der NASA nicht nur ein Triumph der inhärent vorwärts gerichteten Technik. Sie war ebenso Anlass für eine Bewegung in die Gegenrichtung, sie ermöglichte im perspektivischen auch einen gedanklichen Rückblick, eine Rückbesinnung auf die wesentlichen Fragen der menschlichen Existenz. Edgar Mitchell, Astronaut der Apollo-14-Mission, drückte das so aus: „Wir flogen als Techniker zum Mond – und kehrten als Menschenfreunde zurück.“

Save the Planet!

Die offizielle Geschichtsschreibung griff dieses Narrativ bereitwillig auf. Die „blaue Murmel“, so heißt es, wurde zur Ikone der Friedens- und Umweltbewegung und zum Symbolbild jener, die eine Umkehr forderten angesichts des atomaren Overkills im Zeitalter des Kalten Krieges und einer zunehmend entfesselten Weltökonomie, die schon damals ernste Fragen aufwarf: Wo sind die Grenzen des Wachstums? Wie lange trägt der Planet das alles noch?

Belege für diese Darstellung sind nicht schwer zu finden. Die „blaue Murmel“ zierte unzählige Buttons und T-Shirts, oft begleitet von die Einheit beschwörenden Slogans wie „One World“, „World Community“ und „Save Our Planet“; sie erschien auf dem Cover des „Whole Earth Catalog“, einem einflussreichen Magazin der ökologisch angehauchten Gegenkultur in den USA (eingestellt im Jahr 2003); die „blaue Murmel“ ist bis heute Symbol des jährlich am 22. April abgehaltenen „Earth Day“, bei dem Wachstumskritiker und Klimaaktivisten ein ums andere Mal den Zustand der Erde beklagen - auch die Weltfriedensglocke ertönt an diesem Tag in vielen Städten, das alte Band zwischen Pazifisten und Umweltbewegten hat also noch Bestand.

Menschen schwenken die Flagge des Earth Day vor dem Kapitol in Washington

ASSOCIATED PRESS

Washington, D.C.: Der 20. „Earth Day“ im Jahr 1990 zieht die Massen an

Und natürlich hat sich die analoge Fotografie mittlerweile zum Mem der Digitalkultur gewandelt, mit Auftritten in Computerspielen (Sim Earth), Apps (WeChat), Betriebssystemen (Windows 98), als Internet-Icon (Apple) und nicht zuletzt auf der Kinoleinwand („Apollo 13“, „An Inconvenient Truth“).

Das Motiv wurde auch schon Gegenstand akademischer Untersuchungen, die US-amerikanische Bildwissenschaftlerin Wendy Coones etwa hat sich eingehend mit der Bildsymbolik der „blauen Murmel“ auseinandergesetzt – und führt ihre Wirkung vor allem auf einen Kippeffekt der Wahrnehmung zurück. Bis in die 70er wurde die Erde noch als Planet wahrgenommen, dessen Stabilität einfach vorausgesetzt wurde. Vom Weltall aus betrachtet offenbarte die Erde plötzlich ihre Zerbrechlichkeit, sagt Coones. „Sie erscheint in diesem Bild, als wäre sie aus Glas gemacht, fragil, wertvoll und isoliert in ewiger Finsternis.“

Ähnliches hatte schon Hans Blumenberg als Chronist der Mondmission vermerkt. Die „Gleichzeitigkeit von Mondbezwingung und Umweltschutzbeatmung war keine beliebige Koinzidenz“, schrieb der deutsche Philosoph vor 50 Jahren. Und vermutete, das Bild habe „ein Gefühl für die Kostbarkeit dieses wie lebendig erscheinenden Planeten geweckt“.

Die „blaue Murmel“ hat unser Weltbild verändert, soweit ist an der Geschichte, wie sie schon oft erzählt wurde, nichts auszusetzen. Nur darf an dieser Stelle auch gefragt werden: Hat sie auch die Welt verändert? Hat das Umdenken auch zu einem Umlenken geführt?

Der hellsichtige Blumenberg vermutete schon damals, dass in dem Motiv von Beginn an eine Überdeutung angelegt war. Denn vom menschlichen Unrat, von Verschmutzung und Raubbau war auf dem zur Ikone aufgestiegenen Bild nichts zu bemerken. „Es war eine Versicherung, was man sah, keine Warnung.“ Die Erde schien unversehrt.

Umweltschutz: Bilanz des Versagens

Heute, ein halbes Jahrhundert später, können wir Bilanz ziehen über das wahre Verhältnis von Versicherung und Warnung. Etwa in Sachen Klimaschutz: Das Kyoto-Protokoll ist gescheitert, weil der Vertrag rechtlich bindend war bzw. gewesen wäre. Manche Länder haben den Klimavertrag erst gar nicht unterschrieben, andere haben ihn unterschrieben, aber nicht ratifiziert - und wieder andere haben ihn ratifiziert, aber nicht eingehalten.

So kam man auf die Idee, das Vertragswerk auf Basis der Freiwilligkeit neu zu errichten. „Übereinkommen von Paris“ heißt dieser Entwurf, der die globale Erwärmung auf zwei Grad begrenzen soll. Beziehungsweise 1,5 Grad, denn auf ein eindeutig formuliertes Ziel konnte sich die Staatengemeinschaft schon bei den Verhandlungen nicht einigen. Rechnet man die auf dem Papier zugesicherten Maßnahmen der 196 Länder hoch, landet man allerdings bei etwa drei Grad plus.

Weltkarte zeigt den globalen Temperaturanstieg

Goddard Institute for Space Studies

Globale Erwärmung: Der Planet hat Fieber

Und damit ist noch nichts über die praktische Umsetzung gesagt. Die verläuft - gutwillig formuliert - schleppend. Obwohl Klimaexperten dreieinhalb Jahre nach der Vertragsunterzeichnung nur mehr einen extrem schmalen Korridor zur Erreichung der Pariser Ziele ausmachen. Doch die Uhren der Klimapolitik gehen anders, Gemächlichkeit regiert die Welt.

Ein ähnliches Muster durfte man im Mai nach der Veröffentlichung eines alarmierenden Berichts des Weltrats für Biodiversität beobachten. Demnach ist von den geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten rund eine Million akut vom Aussterben bedroht, wir befinden uns also mittendrin in einem Massensterben, vergleichbar mit jenen, die in Urzeiten durch Asteroideneinschläge oder andere Naturkatastrophen ausgelöst wurden. Der Unterschied ist nur: Die Naturkatastrophe ist hausgemacht, für all das verantwortlich sind wir selbst.

Und wie reagierten die Entscheidungsträger? Die G-7-Umweltministerinnen und -Umweltminister fanden sich im französischen Metz zu einem Gipfeltreffen ein und verabschiedeten ein Papier, in dem sich die größten Industrienationen zum Artenschutz bekennen – dies freilich unverbindlich.

Verkohlte Baumstümpfe in Indonesien

ROMEO GACAD / AFP

Brandrodung auf Sumatra: Die Zerstörung von Lebensräumen ist eine der Hauptursachen des Artenschwundes

In den Leitlinien des Textes ist viel vom „Sollen“ die Rede, die Anstrengungen zum Schutz der Artenvielfalt sollten „beschleunigt und intensiviert“ werden, es sollten „andere Akteure zum Handeln bewegt“ und es sollten „weltweit gültige Maßnahmen“ entwickelt werden. Wohlgemerkt für die Zeit nach 2020. Kurzum: Umweltschutz, als politischer Auftrag, erschöpft sich allzu oft im schriftlichen Bekenntnis. Umsetzen kann das Papier ja die nächste Regierung. Oder die übernächste. Und solange es Staaten gibt, die vom gemeinsamen Plan abrücken – wie etwa die USA gegenwärtig in der Klimapolitik –, ist selbst das ungewiss.

Ohnmacht der Bilder

An der von Blumenberg kritisierten Leerstelle lag es wohl nicht. Denn die Warnungen wurden mittlerweile nachgeliefert, die Weltraumagenturen ESA und NASA haben ein umfassendes Erdbeobachtungsprogramm etabliert, das die Naturzerstörung in ihrem ganzen Ausmaß in Bilder fasst.

Ob es die jüngst in Alaska, Sibirien und Grönland ausgebrochenen Brände sind oder die Abholzung der Regenwälder, das Korallensterben oder die Müllinseln im Meer – all das entgeht den Satellitenaugen nicht.

Auch Astronauten der ISS beschränken sich längst nicht mehr auf die Darstellung der Naturschönheit, wenn sie die Kamera auf die Erde richten. Der Deutsche Alexander Gerst setzte etwa während seines Aufenthalts auf dem Außenposten der Menschheit einige Tweets ab, die den Zuhausegebliebenen eigentlich Mahnung hätten sein sollen.

Doch was hat es genützt? Ob die Erde nun rein und blau erscheint oder braun und krank, es scheint keinen großen Unterschied zu machen. Am 7. Dezember 1972 erschien der Planet erstmals verwundbar. Heute wissen wir: Er ist es tatsächlich.

Robert Czepel, science.ORF.at

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