Seltene Originaltöne vom Kriegsbeginn

Mit dem Überfall auf Polen hat Nazi-Deutschland vor 80 Jahren den Zweiten Weltkrieg begonnen. Seltene Tonaufnahmen dokumentieren die Ereignisse – darunter auch Hitlers einziges Gespräch ohne Propagandaton.

Den Satz „Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen!“ bekamen am Freitag, den 1. September 1939, in den USA nicht einmal die aufmerksamsten Radioteilnehmer zu Gehör, obwohl die komplette Hitler-Rede vor dem Reichstag in der Kroll-Oper in Berlin von CBS ausgestrahlt wurde.

„Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen.“ Dieser Satz des deutschen Reichskanzlers schien dem Simultandolmetsch des US-Networks so bedeutsam, dass er ihn sofort übersetzte. Die darauf folgende welthistorische Sentenz vom Zurückschießen fiel unter den Tisch, aber es war ohnehin allen klar, dass somit im fernen Europa der Krieg ausgebrochen war. „From now on bomb will be met by bomb!“ wurde Hitlers Gebrüll auf Englisch übersetzt.

Originalton: Hitler auf CBS

Ein heißer Tag, auch in Kritzendorf

Keine Übersetzung brauchten die Deutschen, unter ihnen auch die „Ostmärker“. Ihnen blies an diesem heißen Tag der kalte Hauch der Kriegsrede in ihrer eigenen Sprache ins Gesicht.

„Als ich ins Zimmer kam, ist meine Mutter beim Radio gesessen“, erinnert sich der Wiener Günther Steinbach, damals fünf Jahre alt. „‚Der Krieg ist ausgebrochen‘, hat sie gesagt. Ich fragte: ‚Kann auch der Friede ausbrechen?‘“

ORF-Schwerpunkt

Der ORF begleitet den 80. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs in TV, Radio und online.

Vater Steinbach packt seine Familie ins Auto Marke „Steyr Baby“ und fährt aufs Land, nach Kritzendorf in die Ferienhütte. Dort sei es jetzt sicherer als in der Stadt, meint er, denn er und seine Frau rechnen stündlich mit Bombenangriffen auf die Stadt - oder mit Giftgasattacken! So tief sitzt noch der Schrecken des Ersten Weltkriegs, ohne den der Zweite nicht zu erklären ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass Hitler an die Ankündigung der Bombenvergeltung den Ausruf: „Wer mit Gift kämpft, wird mit Giftgas bekämpft!“ gehängt hat.

„Genießt die Fahrt!“, sagt Vater Steinbach und fährt zur Verblüffung seines kleinen Sohnes einen Umweg. „Es wird das letzte Mal sein, dass wir in diesem Auto sitzen.“ Er behält recht. Wenig später wird sein „Steyr Baby“ wie so viele andere Zivilfahrzeuge beschlagnahmt. Kriegswichtig ...

Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1.9.1939: Soldaten zerstören den Schlagbaum an der deutsch-polnischen Grenze in der Nähe von Danzig.

ORF/Bundesarchiv/Hans Sönnke

Überfall der deutschen Wehrmacht: Soldaten zerstören den Schlagbaum an der deutsch-polnischen Grenze in der Nähe von Danzig

Vom Arbeitsdienst zum Studium

Er ist, wie gesagt, ein sonniger Tag, dieser Freitag, der 1. September 1939. Alexander Giese, Jahrgang (1921-2016), steht stramm auf dem Appellplatz des Reichsarbeitsdienst(RAD)-Lagers am Attersee. Der blutjunge Wiener hat sich im Frühjahr 1939 freiwillig zum RAD gemeldet, um die Zulassung zum Studium zu bekommen. Gemeinsam mit seinen Schicksalsgefährten hört Giese aus großen Lautsprechern Hitlers Stimme: „(...) Die deutsche Jugend wird strahlenden Herzens ohnehin erfüllen, was die Nation, der nationalsozialistische Staat von ihr erwartet und fordert (...)“

„Wir alle wussten“, so Giese heute, „dass wir in einen katastrophalen Krieg geschickt werden!“ Aber nicht mit mir, denkt er bei sich. In der Kanzlei holt er sich seine Entlassungspapiere: Just der 1. September 1939 ist nach der Papierform sein letzter Tag beim Arbeitsdienst! Und sie müssen ihn dort gehen lassen, denn er ist als Novemberkind noch nicht 18 Jahre alt. Ein verblüffter Offizier, der es nicht fassen kann, dass Giese in einer solchen Stunde abrüstet, fragt ihn, was er nun zu tun gedenkt. „Studieren!“, ist die Antwort.

Der Offizier lässt ihn nur weg, sagt er, wenn der junge Mann ihm in die Hand hinein verspricht, Technik zu studieren. Techniker werde der Führer schließlich am meisten brauchen können. Giese verspricht’s, fährt nach Wien und inskribiert dort prompt an der Universität die Fächer Geschichte und Anglistik.

Gedrückte Stimmung

„Die Stimmung in Wien war unbeschreiblich gedrückt“, erinnert er sich. „So arg, dass sich niemand getraute, seine Bedrückung offen zu zeigen.“ Zum Kriegsdienst eingezogen wird er erst 1941. In Italien gerät er in US-amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach dem Krieg wird Giese Rundfunk- und Fernsehpionier, ORF-Kultur- und Wissenschaftsjournalist, Schriftsteller und P.E.N-Clubpräsident.

Steinbach, der kleine Bub, der an dem heißen 1. September 1939 in Tränen ausgebrochen ist, da er angesichts des Umwegs nach Kritzendorf die Situation als dramatisch erkannt hat, wird nach 1945 Jurist, Spitzenbeamter und Arbeitsmarktspezialist. Als passionierter Historiker und Geschichtsdarsteller analysiert er unter anderem als Koautor des Buches „Unser Hitler. Die Österreicher und ihr Landsmann“ (erschienen 2009) jene Jahre, an denen er als Kind noch teilhatte.

Soldaten der deutschen Wehrmacht an der Stadtgrenze von Warschau, Ende September 1939

ORF/Polish Archive

Soldaten der deutschen Wehrmacht an der Stadtgrenze von Warschau, Ende September 1939

Komplizierte Komplizen

Warum wurde gerade Polen zum Schauplatz eines Feldzugs, der sich zum Zweiten Weltkrieg auswuchs? Hitlers aggressive Politik, sein großangelegter Raub von Ländern, zuletzt der Tschechoslowakei, und seine erwiesene Paktunfähigkeit hatten das ermöglicht, was in den westlich oder auch den rechts-autoritär regierten Staaten vor Mitte der 1930er Jahre niemand für realistisch gehalten hätte: Die bisher international isolierte Sowjetunion, dieser so verhasste wie gefürchtete weltrevolutionär ausgerichtete Staat Josef Stalins, wurde plötzlich als potenzieller Verbündeter gegen den als noch gefährlicher empfundenen Hitler ins Konzert der anerkannten Großmächte aufgenommen und sogar Mitglied des Völkerbunds, aus dem Deutschland bereits ausgetreten war!

Stalin war dennoch nicht zufrieden. Er wollte das zurückhaben, was der jungen Sowjetunion nach dem Ersten Weltkrieg abgezwackt worden war, und das jetzt Ostpolen hieß. Allmählich wurde ihm klar, dass die Schutzmächte Polens, England und Frankreich, darauf nicht einsteigen würden. Schmerzvoll war dem hochgradig paranoiden Stalin außerdem noch die vormalige demütigende Isolierung durch den kapitalistischen Westen in Erinnerung. Als nun in Zeiten westlicher Appeasement-Politik gegenüber Hitler ruchbar wurde, dass Briten und Franzosen allen Hitler’schen Einmärschen offenbar tatenlos zusahen, schwanden die Chancen auf einen Krieg zwischen Deutschland und dem Westen, nach dessen Ende, so träumte Stalin, die Sowjetunion als lachender Dritter ein erschöpftes Europa taxfrei kassieren würde.

Begrüßung der Deutschen Wehrmacht in Danzig

ORF/Spiegel TV

Begrüßung der deutschen Wehrmacht in Danzig

Na gut, dann eben mit Hitler, dachte Stalin. Der wiederum war in Sachen Polen ein Gespaltener. 1934 hatte er mit dem militärisch überlegenen Nachbarn noch einen Nichtangriffspakt geschlossen, doch mittlerweile war Deutschland gleichgezogen, und Hitler fühlte sich stark genug, um das alte Problem mit der zwangsweise als Freistaat angelegten, mehrheitlich von Deutschen bewohnten Stadt Danzig zu lösen. Außerdem wollte er einen deutschen Korridor zwischen dem Hauptteil des Reiches und Ostpreußen, das seit 1918 räumlich isoliert dalag. Das Ziel der NS-Ideologie war die Schaffung von “Lebensraum im Osten“ für das deutsche Volk und die Unterwerfung der als minderwertig eingestuften Slawen.

Der Irrtum Polens

„Hitler wollte beides“, sagt Steinbach: „Danzig und den Korridor für Deutschland und Polen als Bundesgenossen gegen das bolschewistische Russland mit nachheriger Teilung der Beute. Ihm schwebte etwas Ähnliches vor, wie es in Jalta und Potsdam - nur dann in umgekehrter Richtung - verwirklicht wurde: Die Verschiebung Polens nach Osten.“

Doch Polen fühlte sich im Jahr 1939 von seinen englischen und französischen Bundesgenossen so behaglich beschützt, dass es seinerseits stolze Großmachtideen entwickelte: Sollte Hitler den Status von Danzig zu ändern gedenken, werde es Krieg geben, drohte der polnische Außenminister, Oberst Beck, und die polnische Armee werde nach Berlin marschieren!

Seit dieser Ansage läuteten für Hitler und Stalin bereits die Hochzeitsglocken - eine Ehe auf Zeit, aber sie sollte es in sich haben - vor allem für die unfreiwilligen Trauzeugen.

Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit

Die Details stehen in den Geschichtsbüchern, machen wir es deshalb kurz: Was der erste kritische Hitler-Biograf Konrad Heiden 1936 schon für seine Gegenwart wahrgenommen hatte, erfüllte sich dann 1939 in furchtbarer Weise. „Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit“ hatte Heiden das Hitler-Buch untertitelt.

Hitlers Außenminister Ribbentrop, ein ausgesprochener Dummkopf (wie ihn viele Zeitgenossen einstuften, vgl: Reinhard Spitzy, „So haben wir das Reich verspielt“, München 1986), der seit seiner von Peinlichkeiten geprägten Zeit als deutscher Botschafter in London England hasste, hatte dem „Führer“ eingeredet, dass England und Frankreich angesichts einer deutschen Invasion Polens wieder einmal stillhalten würden. Als allerdings am 3. September die Kriegserklärung Englands eintraf, fragte Hitler Ribbentrop: „Was nun?“

Die ganze Leichtfertigkeit eines zögernden, ratlosen und vollkommen verantwortungslosen Diktators liegt in diesen beiden Worten. Hitler wollte zwar Krieg, aber er hatte ihn sich anders vorgestellt. Mit der Kriegserklärung Englands hatte er nicht gerechnet.

Kriegsbeginn in Polen, zerstörtes Warschau

ORF/Pammer Film/the world at war, US-Propaganda

Kriegsbeginn in Polen, zerstörtes Warschau

Aus Komplizen wurden Feinde

Ein ähnliches Erlebnis sollte dann 1941 Stalin haben. Auch er wusste wohl, dass ein Krieg zwischen der Sowjetunion und Hitlers Reich kommen würde und aus beider Sicht auch kommen sollte. Nur war er überrascht, dass Hitler zu diesem Zeitpunkt losschlug. Die ideologischen Fronten waren jedenfalls wiederhergestellt. Aus Komplizen waren erneut die alten Todfeinde geworden.

1939 verkündete ein gebrochener Premierminister Chamberlain, der sich intensiv um eine Friedensordnung bemüht hatte, via Rundfunk der Weltöffentlichkeit, dass sein Land „in war with Germany“ war. Zwei Jahre lang nahm das Empire seine Verantwortung mehr oder weniger alleine wahr, gegen Hitler zu kämpfen.

Dass die Briten aber während und unmittelbar nach der Teilung Polens trotz Kriegserklärung in einem „Sitzkrieg“ aktionslos verharrten und den Deutschen die Möglichkeit gaben, eines nach dem anderen zu erledigen und 1940 Frankreich in wenigen Wochen einzunehmen, ließ in Hitler den Wahn noch größer erwachsen, er sei der „Starke von oben“, der von der „Vorsehung“ auserwählte Herrscher Europas.

Jenseits jeder Verantwortung für ihre eigenen oder andere Völker verwirklichten die Diktatoren ihre Großmachtphantasien. Dabei hatten sie jede Menge willfährige Komplizen bei der Ausführung von Massenmord und Genozid.

Einziges Hitler-Gespräch jenseits von Propaganda

Wie Hitler tickte, erweist ein heimlich vom finnischen Rundfunk mitgeschnittenes Privatgespräch Hitlers mit dem finnischen Marschall Mannerheim vom 4. Juni 1942. Hitler brauchte die finnischen Verbündeten gegen die Sowjetunion und er flog extra nach Helsinki, um Carl Gustaf Mannerheim zum 75. Geburtstag zu gratulieren und ihm die deutsche Kriegsführung zu erklären. Die in einem Eisenbahnwaggon entstandene geheime Aufnahme ist die einzige von Hitlers Stimme jenseits der Propaganda. In dem Gespräch sagt Hitler - mit ungewohnt ruhiger Stimme -, dass er im Herbst 1939 eigentlich vorgehabt hatte, den Westen anzugreifen:

Selten in der Geschichte waren charakterlich derart minderwertige und verbrecherische Figuren so mächtig wie Hitler und Stalin; selten aber auch Demokratien letztlich doch so kampfentschlossen wie Großbritannien und die USA.

Daran konnte auch nicht ändern, dass Hitler 1938 vom „Time magazine“ zum „Man of the Year“ gekürt worden war. Stalin übrigens im Jahr darauf …

Martin Haidinger, Ö1-Wissenschaft

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