100 Jahre Vertrag von Saint-Germain

Vor 100 Jahren hat Staatskanzler Karl Renner den Vertrag von Saint-Germain unterschrieben. Er beinhaltete das Anschlussverbot und Gebietsverluste - aber auch wenig bekannte und kuriose Bestimmungen, wie drei Experten in einem Gastbeitrag schreiben.

Vor exakt 100 Jahren, am 10. September 1919, wurde im „Steinzeitsaal“ des Schlosses Saint-Germain-en-Laye nahe von Paris der Friedensvertrag zwischen Österreich und den Alliierten und Assoziierten Mächten unterschrieben. Er wird, gemeinsam mit den Friedensschlüssen, die die Alliierten mit Deutschland, Bulgarien, Ungarn und der Türkei schlossen, zu den „Pariser Vororteverträgen“ gezählt, die den Ersten Weltkrieg formell beendeten.

Porträtfotos von Herbert Kalb, Anita Ziegerhofer und Thomas Olechowsk

Privat

Über die Autoren

Herbert Kalb ist Vorstand des Instituts für Kanonistik, Europäische Rechtsgeschichte und Religionsrecht der Uni Linz, Anita Ziegerhofer, ao. Univ. Prof. am Institut für Rechtswissenschaftliche Grundlagen der Universität Graz und Thomas Olechowski Professor für Rechtsgeschichte an der Uni Wien.

Die von Staatskanzler Renner geleitete österreichische Delegation hatte sich allerdings bis zuletzt geweigert, den Vertrag als einen „Friedensvertrag“ zu bezeichnen, zumal sie auf dem Standpunkt beharrte, dass der im Oktober 1918 gegründete Staat „Deutschösterreich“ eine Neuschöpfung sei, ebenso wie der tschechoslowakische oder der südslawische Staat, die ebenfalls auf dem Boden der untergegangenen Habsburgermonarchie entstanden seien.

Nun aber musste Renner mit seiner Unterschrift bestätigen, dass die „Republik Österreich“ gemeinsam mit Ungarn an die Stelle der Österreichisch-Ungarischen Monarchie getreten und daher auch „verantwortlich“ sei für die Schäden, die Österreich-Ungarn und seine Verbündeten während des Krieges angerichtet hatten. Die damit verbundenen umfangreichen Reparationsleistungen, zu denen sich Österreich im Vertrag verpflichten musste, erwiesen sich freilich als uneinbringlich. Sie wurden zunächst gestundet, dann, 1929, ganz erlassen.

Renners unterschreibt am 10.9.1919 den Vertrag

ÖNB

Staatskanzler Karl Renner unterschreibt am 10.9.1919 den Vertrag

Gebietsverluste und Anschlussverbot

Andere Teile des Vertrags von Saint-Germain hatten dafür große praktische Auswirkungen. Dazu gehörte insbesondere die Festlegung der Grenzen der jungen Republik, die mit ganz geringen Abweichungen noch heute gültig sind. Österreich musste auf eine Reihe von Gebieten mit rein oder vorwiegend deutschsprachiger Bevölkerung verzichten, wie vor allem auf Südtirol und die sudetendeutschen Gebiete, konnte aber – auf Kosten Ungarns – das Burgenland gewinnen.

Als besonders schmerzhaft wurde von vielen Österreicherinnen und Österreichern der Artikel 88 empfunden, der einen „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich verbot (eine gleichartige Bestimmung enthielt auch der mit Deutschland abgeschlossene Vertrag von Versailles). Gerade angesichts der großen Gebietsverluste wurde die kleine Alpenrepublik von vielen als nicht überlebensfähig erachtet. Ihr „Wasserkopf“ Wien, in dem mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung lebte, war auf die Beherrschung eines Großreichs ausgerichtet gewesen; mit den neuen Grenzen zerbrachen jahrhundertealte Wirtschaftsräume.

Sendungshinweise

Über das Thema berichten auch die Ö1-Journale, 10.9., 12:00 Uhr.

Das waren nur ein paar der vielen Argumente der Befürworter eines „Anschlusses“ an das Deutsche Reich. Für die Siegermächte des Ersten Weltkriegs stand demgegenüber deren eigenes Sicherheitsinteresse im Vordergrund: Das eben erst besiegte Deutschland durfte keinesfalls durch einen Hinzutritt Österreichs gestärkt werden.

Grenzstein in der Südsteiermark, der an die Grenzziehung vor 100 Jahren erinnert

Uni Graz/Schweiger

Grenzstein in der Südsteiermark erinnert an Saint-Germain

Sekt ist kein Champagner

Dem Sicherheitsbedürfnis der Alliierten dienten auch das Verbot einer allgemeinen Wehrpflicht und das Verbot einer Luftwaffe für Österreich. Aber der Vertrag beschränkte sich nicht nur auf unmittelbar politische und militärische Bestimmungen; er griff auch tief in das Wirtschaftsleben Österreichs, in seine internationalen Handelsbeziehungen, ja in Fragen des gewerblichen Rechtsschutzes ein. Wer denkt heute etwa daran, dass das Verbot, österreichischen Sekt und österreichischen Weinbrand als „Champagner“ bzw. „Cognac“ zu bezeichnen, seinen Ursprung in Artikel 226 des Vertrags von Saint-Germain hat?

Schutz von Minderheiten

Ein Abschnitt des Vertrags von Saint-Germain steht bis heute in Österreich in Verfassungsrang, und zwar jener, der sprachlichen und religiösen Minderheiten gewisse Mindestrechte zusichert. Die Schaffung eines internationalen Minderheitenschutzes war ein zentrales Anliegen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson auf der Pariser Friedenskonferenz gewesen; entsprechende Bestimmungen finden sich – praktisch gleichlautend – außer im Vertrag mit Österreich auch in speziellen Verträgen, die auf der Konferenz mit Polen, Jugoslawien und der Tschechoslowakei abgeschlossen wurden.

FWF-Forschungsprojekt

Ein vom Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Projekt, an dem die ÖAW sowie die Unis Graz, Linz und Wien beteiligt sind, hat eine umfassende Analyse des Vertrages zum Gegenstand. Ergebnis soll der erste juristische bzw. rechtshistorische Kommentar zum Vertrag von Saint-Germain sein.

Sie enthielten religionsbezogene Schutzrechte, Gleichheitsgarantien, Diskriminierungsverbote sowie Staatsbürgerschaftsrechte und sollten sowohl unter nationalem wie unter internationalem Schutz stehen. Insbesondere das Recht auf freie und öffentliche Religionsausübung war bis dahin nur den gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften vorbehalten gewesen und wurde nun auf alle Einwohner Österreichs ausgedehnt.

Renners Ankunft in St. Germain, Mai 1919

ÖNB

Renners Ankunft in Saint-Germain, Mai 1919

Optionsrecht und Optionspraxis

Über weite Strecken hatten die fünf Pariser Vororteverträge mit Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und der Türkei einen identischen Wortlaut. Eine Besonderheit der mit Österreich und Ungarn abgeschlossenen Verträge von Saint-Germain bzw. Trianon gegenüber den anderen Verträgen waren solche Regelungen, die auf den Zerfall der Habsburgermonarchie Bedacht nahmen, insbesondere jene zur Staatsbürgerschaft.

Traurige Berühmtheit erlangte hier Artikel 80 des Vertrages von Saint-Germain, der gewissen Personen ein Optionsrecht für jenen Staat gab, in dem die Mehrheit der Bevölkerung der gleichen Rasse und Sprache angehörte. Die nach dem deutschnationalen Innenminister benannte „Wabersche Optionspraxis“ sah vor, alle Optionsansuchen von Juden auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft abzulehnen, zumal sie nicht der „gleichen Rasse“ wie die österreichische Mehrheitsbevölkerung angehörten.

Aufwertung des Völkerrechts

Österreich wurde verpflichtet, zahlreichen internationalen Abkommen beizutreten, darunter etwa der Suezkanal-Konvention 1888, dem Opiumabkommen von 1912 und auch der internationalen Konvention zur Bekämpfung der Reblaus von 1881. All diese Punkte zeigen, dass der Vertrag von Saint-Germain weit mehr regelte, als man in einem gewöhnlichen Friedensvertrag vermuten würde, und dass die Pariser Friedenskonferenz 1919/20 eine enorme Aufwertung des Völkerrechts brachte, das nun in immer mehr Bereichen eine bedeutende Rolle spielte.

Den ersten Abschnitt aller fünf Pariser Vororteverträge bildete die Satzung des Völkerbundes, einer internationalen Organisation, deren Gründung vor allem auf Wunsch von Präsident Wilson zustande kam und die als Vorläuferin der heutigen UNO angesehen werden kann. Den vorletzten Abschnitt der Verträge bildete die Satzung der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organisation, ILO); beide Organisationen bildeten gemeinsam sozusagen eine „Klammer“ für das gesamte Vertragswerk.

Österreichische Delegation zum Friedensschluss von St. Germain mit Karl Renner

ÖNB

Österreichische Delegation zum Friedensschluss von Saint-Germain mit Karl Renner

Völkerbund scheiterte, ILO gibt es bis heute

Während der Völkerbund als Garant des politischen Weltfriedens auftreten sollte, sollte die ILO Garant für den sozialen Frieden auf der Welt sein. Die ILO, die auch als Reaktion der westlichen Welt auf die kommunistische Oktoberrevolution in Russland von 1917 angesehen werden kann, setzte wesentliche Impulse für eine internationale Arbeiterinnenschutzgesetzgebung, etwa die Regelung des Nachtarbeitsverbots für Frauen. Sie besteht noch heute als Teilorganisation der UNO, während der Völkerbund 1946 aufgelöst wurde. Österreich gehörte dem Völkerbund von 1920 bis zum „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland im Jahre 1938 an. Obwohl dieser „Anschluss“ ein klarer Verstoß gegen die Verträge von Saint-Germain und von Versailles war, kam weder vom Völkerbund noch von den Großmächten ein Protest.

Mit dem Wiederaufleben Österreichs nach 1945 trat auch der Vertrag von Saint-Germain wieder in Kraft. Viele seiner Bestimmungen sind mittlerweile gegenstandslos oder durch neue, internationale Abkommen überholt worden. Andere Teile des Vertrages haben ihre praktische Bedeutung bis heute behalten.

Mehr zu dem Thema: