„Wirtschaft ist wichtiger als Werte“

Nachdem die ungarische Regierung der Central European University (CEU) die Rechtsgrundlage entzogen hat, starten nun die ersten Studiengänge am neuen Standort Wien. CEU-Rektor Michael Ignatieff betrachtet den erzwungenen Umzug als „politischen Skandal“.

Knapp 500 Studierende werden ab 30. September im Universitätsgebäude in der Quellenstraße im 10. Wiener Gemeindebezirk lernen. Das sechsstöckige Gebäude ist eine Übergangslösung, bis die Räumlichkeiten am Areal des Otto-Wagner-Spitals fertig renoviert sind. Man habe sich in Wien gleich willkommen gefühlt, sagt Michael Ignatieff im Interview mit science.ORF.at: „Das ist ein aufregender, radikal neuer Moment in der Geschichte unserer Universität.“

In Wien werden an der Privatuniversität die gleichen Fächer angeboten wie in Budapest, von Politikwissenschaft und Philosophie über Soziologie und Geschichte bis hin zu Mathematik und Recht. Teilweise werden Studierende und Lehrende zwischen den beiden Städten pendeln, so Ignatieff: „Wir werden viel Zugverkehr verursachen.“ Der Rektor der CEU war anlässlich der Veranstaltung „Academic Freedom in the Digital Age“ an der Universität Wien in Österreich.

Konflikt mit Regierung Orbán

Die Universität möchte nicht ganz von Budapest abziehen. Es bleibt ein Institut für höhere Studien, ein Archiv zur Geschichte des Kalten Kriegs und ein Teil der englischsprachigen Bibliothek, außerdem werde man weiter Vorträge für die breite Öffentlichkeit halten – auch zu Themen, die mit ein Grund für den Konflikt mit der Regierung Orbán waren: liberale Demokratie, Menschenrechte, Gleichberechtigung. Dass die Universität Ungarn verlassen muss, bezeichnet Michael Ignatieff als politischen Skandal: „Zum ersten Mal wird eine Universität gezwungen, einen Mitgliedsstaat der EU zu verlassen und in einen anderen zu übersiedeln.“

Der Rektor der Central European University, Michael Ignatieff

APA/AFP/ATTILA KISBENEDEK

Der Rektor der Central European University, Michael Ignatieff

Die Wissenschaft sei in Ungarn Teil eines größeren Umbaus des Landes. Im Jahr 2010 hat die Fidesz-Partei von Victor Orbán bei Wahlen die absolute Mehrheit an Parlamentssitzen erobert. Seit damals wurde die Verfassung geändert, das Verfassungsgericht reformiert, unabhängige Medien eingestellt. „Dann haben sie begonnen, die Universitäten unter ihre Kontrolle zu bringen. Wir waren nicht das einzige Ziel.“ Rektor Michael Ignatieff verweist auf die ungarische Akademie der Wissenschaften, die erst vor Kurzem im Sinn der Regierung reformiert wurde - Ignatieff spricht von „Zerstörung“.

Wissenschaft rechtlich schlecht abgesichert

Die Europäische Union, Mitgliedstaaten und Kommission, hätten zwar immer wieder ihre Unterstützung bekundet, es habe viele Solidaritätsbekunden von Universitäten gegeben. Von den politisch Verantwortlichen habe aber niemand „Stop“ gesagt: „Weder die Deutschen noch die Österreicher noch die Franzosen – sie haben einfach zugesehen.“ Für Ignatieff ein Zeichen, dass Europa seine wirtschaftlichen Interessen besser verteidige als seine Werte.

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Noch läuft ein Verfahren gegen Ungarn beim Europäischen Gerichtshof wegen des Hochschulgesetzes. Dass das Urteil der CEU helfen werde, bezweifelt der Rektor, weil die Freiheit der Wissenschaft europarechtlich schlecht abgesichert sei. „Sie wird in der Europäischen Menschenrechtskonvention erwähnt, aber es ist schwierig, auf einer allgemeinen Erwähnung ein Gerichtsverfahren aufzubauen. Davon abgesehen fokussiert das Europarecht auf Waren und Dienstleistungen. Jetzt kann man Bildung zwar auch als Dienstleistung verstehen, aber auch hier: Ein Verfahren darauf aufzubauen, ist mehr als schwierig.“ Die Strategie für die nächsten Jahre lautet deshalb: Ungarn nicht aufgeben - und den Betrieb in Wien hochfahren.

Elke Ziegler, Ö1-Wissenschaft

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