Das verflixte 37. Jahr

Rund 40 Prozent aller Ehen werden in Österreich geschieden. Während die Gesamtrate sinkt, steigt sie bei über 50-Jährigen seit Jahren. Das schadet den Finanzen und der Gesundheit – kann aber vor allem für Frauen auch sehr befreiend sein.

„Diese Frauen sind oft in Pension, haben keine ehelichen Verpflichtungen sowie beruflichen Aufgaben mehr und genießen einfach das Leben“, fasst es die Soziologin Susan Brown von der Bowling Green State University im US-Bundesstaat Ohio zusammen.

„Grey divorce revolution“ auch in Österreich

Brown hat das Phänomen zwar nicht in Österreich untersucht, macht dies aber seit Jahren im „Scheidungs-Vorzeigeland USA“ (Scheidungsrate: 45 Prozent). Im Rahmen der Health and Retirement Study werden dort rund 20.000 Männer und Frauen über 50 alle zwei Jahre zu Familienstatus, Sozioökonomie, Gesundheit usw. befragt. Aus den Ergebnissen lässt sich eine „grey divorce revolution“ ableiten, wie es Brown nennt: die Tendenz, dass die Scheidungsrate der Über-50-Jährigen weiter steigt.

Summer School zu Scheidungen

Susan Brown ist Gast bei: ”Divorce and children: consequences - perspectives – progress”: Marie Jahoda Summer School of Sociology, 16.-20. September, Universität Wien

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„Diesen Trend gibt es auch in Österreich“, ergänzt die Soziologin Ulrike Zartler von der Universität Wien. „Die Scheidungsrate sinkt zwar generell, steigt aber bei Paaren, die 25 Jahre oder länger verheiratet sind.“

Die konkreten Zahlen: Rund die Hälfte aller Ehen in Österreich wird innerhalb der ersten zehn Jahre geschieden, aber schon jede siebente Ehe nach 25 Jahren, Tendenz steigend. 2018 haben sich 38 Paare erst nach der Goldenen Hochzeit, also nach 50 Ehejahren, scheiden lassen. Die Gesamtscheidungsrate liegt in Österreich bei 41 Prozent. „Spitzenreiter“ ist Wien mit 46,7 Prozent, „Schlusslicht“ Tirol mit 36,2 Prozent.

TV-Moderatorenlegende Larry King und seine Ehefrau Shawn King

AFP

TV-Moderatorenlegende Larry King und seine siebente Ehefrau, die Sängerin Shawn King 2012. Vor Kurzem hat er nach 22 Jahren Ehe die Scheidung eingereicht.

Gründe: Kinder, Ansprüche und Geld

Die Gründe dafür sind vielfältig. Ganz wichtig ist die Kinderfrage. „Viele warten mit einer Scheidung, bis die Kinder das Haus verlassen haben“, sagt Susan Brown. „Wir hätten auch erwartet, dass die Pensionierung oder ein schlechter Gesundheitszustand eher Anlässe für eine späte Scheidung sind. Das ist laut den Umfragen aber nicht der Fall.“ Sehr wohl eine Rolle spiele die Qualität der Ehe. Paare, die nicht sehr glücklich sind und wenig Zeit miteinander verbringen, lassen sich wenig überraschend eher scheiden.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 23.9., 13:55 Uhr.

Hinter der „grey divorce revolution“ verberge sich aber auch ein gewandeltes Bild der Institution Ehe an sich, sagt Brown. „Junge Menschen, die heute heiraten, stellen an sie hohe Ansprüche. Ausbildung, Arbeit, Wohnung, Lebenserfüllung: Sie wollen alles das auf der Reihe haben.“ Diese Einstellung habe heute auch die ältere Generation. Bevor die Ehepartner weitere 20 Jahre nach der Pension mit jemandem verbringen, den sie nicht mehr lieben, gehen sie lieber getrennte Wege.

Ohne sozioökonomische Basis ist das Phänomen freilich auch nicht zu verstehen. Frauen sind heute eher berufstätig und insofern finanziell weniger von ihren Männern abhängig. „Die Qualität der Ehen ist heute nicht schlechter als vor einer Generation. Aber die Frauen können sich eine späte Scheidung schlicht besser leisten“, sagt Brown. Sie betont aber, dass die Konsequenzen für die Über-50-Jährigen alles andere als ein Zuckerlecken sind.

Thomas und Thea Gottschalk 2013 bei den Salzburger Festspielen, im Frühjahr hat sich das Paar nach 43 Jahren Ehe getrennt

APA - Franz Neumayr

Thomas und Thea Gottschalk 2013 bei den Salzburger Festspielen, im Frühjahr hat sich das Paar nach 43 Jahren Ehe getrennt.

Weniger Wohlstand, mehr Depressionen …

„Der Lebensstandard von Frauen sinkt um 40 Prozent, der von Männern um 20 Prozent. Laut unseren Daten ändert sich das auch zehn Jahre nach der Scheidung nicht“, so die Soziologin. Auch die psychologischen Folgen seien eher düster. „Nach einer Scheidung steigen depressive Symptome sprunghaft an, sie dauern rund vier Jahre.“ Besser geht es Personen, die noch einmal heiraten, sie erholen sich schneller. Mehrheitlich sind das Männer, von ihnen wagt die Hälfte eine neue Ehe, während es bei Frauen nur ein Viertel ist. „Frauen haben eher die Haltung ‚Das kenn ich schon‘“, sagt Susan Brown. „Sie haben sich schon um einen Mann und einen Satz Kinder gekümmert, jetzt ist für sie die Zeit angebrochen, sich als Individuen zu entwickeln.“

Apropos: Die Forschung zu den psychologischen Auswirkungen älterer Scheidungspaare auf Kinder steht noch am Anfang. Was man aber jetzt schon sagen kann: „Ihre Vorstellungen über die Art und Qualität der Beziehung der Eltern werden durch eine solche ‚graue Scheidung‘ erschüttert. Speziell für Kinder von den biologischen Eltern kann das eine große Herausforderung sein“, so Brown.

… aber dafür auch mehr Freiheit

Dass die Zahl der „grauen Scheidungen“ zunimmt, könnte sich auch zu einem Problem in der Pflege entwickeln. „Üblicherweise sind es die Frauen, die sich im Alter um ihre Männer kümmern. Väter haben in der Regel nach einer Scheidung auch weniger Kontakt mit den Kindern als die Mütter“, sagt die Soziologin Ulrike Zartler. Dementsprechend sind die Kinder auch seltener bereit, sich um die Pflege der Väter zu kümmern. „In der Hinsicht ist es also gut, dass sich Männer schneller wiederverheiraten, denn so haben sie eine neue Partnerin, die sich um sie kümmert.“

Gibt es eigentlich auch positive Effekte, die für eine Scheidung über 50 sprechen? „In unseren empirischen Daten haben wir keine Hinweise darauf gefunden“, gibt Susan Brown zu. „Wir wissen aber aus anderen Interview-Studien, dass eine Scheidung für viele Menschen, vor allem wenn sie gesund und ökonomisch stabil sind, sehr befreiend sein kann. Sie kann auch zu einem neuen Lebensabschnitt führen, der sehr viele Möglichkeiten offenhält.“

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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