Historiker against Future

Im Gegensatz zu früher beschäftigen sich Historiker heute eher ungern mit der Frage, ob es eine Logik der Geschichte gibt, die auch etwas über die Zukunft verrät. Warum das so ist, skizziert die Historikerin Holly Case in einem Interview.

Holly Case von der Brown University in Providence im US-Bundesstaat Rhode Island ist eine der Vortragenden beim Vienna Humanities Festival, das noch bis Sonntagabend in Wien stattfindet.

science.ORF.at: Viele Historiker und Historikerinnen schreiben heute Bücher zu bestimmten Ereignissen der Vergangenheit, in denen sie neue Interpretationen zum Teil bekannter Fakten liefern. Sie beschäftigen sich hingegen mit dem großen Ganzen – den Mechanismen, den möglicherweisen verborgenen Zielen von Geschichte, letztlich mit Geschichtsphilosophie: warum ein derartig monströses Thema?

Porträtfoto von Holly Case

Brown University

Holly Case ist zurzeit Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.

Holly Case: (lacht) Es gibt gute Gründe es nicht zu tun, weil es wirklich riesig ist und von vielen auch als gefährlich empfunden wird. Die Auswirkungen populärer Geschichtsphilosophien im 20. Jahrhundert waren einigermaßen katastrophal. Wenn man an ein Ende der Geschichte glaubt, kann das den Wunsch auslösen, dieses Ende schneller herbeizuführen. Einer der Endpunkte des Marxismus-Leninismus etwa war der Stalinismus, der versucht hat, die Geschichte zu beschleunigen und zu riesigen menschlichen Verlusten geführt hat. Die Idee, Menschen zu perfektionieren, legt nahe, dass es Menschen gibt, die nicht perfekt genug sind. Das führt zu Kategorien, wo die weniger Perfekten entweder perfektioniert, beiseitegeschoben oder ausgelöscht werden.

Historiker tun sich mit diesem „großen Ganzen“ heute deshalb einigermaßen schwer …

Case: Ja, nicht einmal die Philosophen denken heute viel über Geschichtsphilosophie nach. Wenn sich Historiker ihr heute widmen, dann historisch – als eine Art Geschichte der Philosophie der Geschichte. Dafür haben sie gute Gründe: Sie sind allergisch gegen Teleologie, also dagegen, die Geschichte rückwärts vom Ende zu lesen – und das Ergebnis als notwendiges Resultat seiner Entwicklung zu begreifen. Deshalb versuchen sie, in der Vergangenheit Zufälligkeiten zu entdecken und aufzuzeigen, wie Dinge anders hätten sein können. Im Gegensatz zu anderen Sozialwissenschaftlern, die nach Mustern suchen, sagen sie: In dieser Zeit und in diesem Zusammenhang ist ein Ereignis besonders. Die meisten Historiker sind also allergisch gegen Teleologie und die Vorstellung eines Endes – auch wenn es bereits eingetreten ist (lacht).

Wie meinen Sie das?

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 27.9., 13:55 Uhr.

Case: Nehmen wir z.B. 1989: Es wäre vermutlich lustig, Historiker zu befragen, ob das Ende des Kommunismus historisch notwendig war. Man würde viele verschiedene Antworten bekommen. Manche würden sagen, nein, nichts musste geschehen, es hätte auch ganz anders kommen können. Auch wenn etwas bereits geschehen ist, ist die Sache für Historiker also noch nicht geritzt. Das hat zum Teil mit Hegel zu tun, dem Geschichtsphilosophen. Hegel meinte, dass jede reflektierende Geschichte eine andere reflektierende Geschichte ablöst. D.h. Geschichtsschreibung hat ein Ablaufdatum. Historiker und Historikerinnen haben eine Interpretation der Geschichte, die zu ihrer Zeit passt. Die Geschichten werden obsolet, wenn neue Geschichte geschrieben wird - etwa weil es neue Evidenzen gibt oder weil Menschen schlicht verschiedene Dinge untersucht haben.

Die ehemaligen Außenminister Alois Mock und Gyula Horn durchschneiden am 27. Juni 1989  den „Eisernen Vorhang“ an der ungarischen Grenze zu Österreich.

APA - Robert Jäger

Die damligen Außenminister Alois Mock und Gyula Horn durchschneiden am 27. Juni 1989 den „Eisernen Vorhang“ an der ungarischen Grenze zu Österreich.

Bei all diesen Interpretationen: Welchen Stellenwert hat da die historische Wahrheit?

Case: Es gibt eine gewisse Spannung zwischen Hegels Geschichtsverständnis und jenem des preußischen Historikers Leopold von Ranke. Für ihn bedeutete Geschichte niederzuschreiben, „wie es eigentlich gewesen“ ist. Was auch heißt: Wenn man die Höhen erklommen hat, um zu sehen, wie die Geschichte wirklich war, ist sie auch schon wieder vorbei. In dieser Hinsicht tendieren heutige Historiker dazu, sich als Vertreter einer reflektierenden Geschichte im Sinne Hegels zu sehen. Sie versuchen die Vergangenheit offenzuhalten, nicht nur für neue Evidenzen, sondern auch für neue Interpretationen. Natürlich haben sie auch noch immer etwas von Ranke an sich und wollen sich den Quellen und einer gewissen Objektivität vorsichtig annähern. Generell ist Geschichte aber heute vor allem Metageschichte, also eine Kritik von anderen Interpretationen von Geschichte.

Wenn Historiker die Geschichte verschieden interpretieren, machen sie das nicht wertfrei. Inwiefern sind ihre Interpretationen politisch, auch wenn sie nicht an das eine Ziel oder Ende der Geschichte glauben?

Case: Manche Historiker wollen, dass eine bestimmte Zukunft eintritt, und das hängt mit der Art, wie sie Geschichte beschreiben, zusammen – etwa indem sie den Möglichkeitsraum der Vergangenheit beschreiben. Mich fasziniert, dass diese Gedanken oft in ihren Interpretationen durchschimmern. Was sie schreiben und vermutlich meinen, ist aber oft nicht das gleiche, was die Leser interpretieren. Ein interessantes Beispiel betrifft Timothy Snyders Buch „Bloodlands“, das die grauenhaften Ereignisse der 1930er und 1940er Jahre im Gebiet zwischen Deutschland und der Sowjetunion beschreibt: Hungersnöte, Krieg, Holocaust etc. Der afroamerikanische Autor Ta-Nehisi Coates hat “Bloodlands“ und Tony Judts „Postwar“ gelesen und daraus geschlossen, ein Atheist zu sein – denn die Lektüre lasse kein anderes, besseres Ende der Entwicklungen zu als die tatsächlich geschehenen Grausamkeiten. Deshalb glaubt Coates auch nicht an den berühmten Satz von Martin Luther King, wonach „der Bogen des moralischen Universums weit ist, sich aber zur Gerechtigkeit neigt.“ Coates glaubt an Chaos und warnt vor allem vor den Leuten, die an Utopien glauben, denn diese seien besonders gefährlich. Ich denke, dass Timothy Snyder das überhaupt nicht so gemeint hat. Er hat in anderen Zusammenhängen klargemacht, wie gefährlich ein apokalyptisches Denken sein kann. Nicht nur in seinem Buch, sondern in allen Geschichtsbüchern gibt es implizite Geschichtsverständnisse, aus denen sich Leser das Ihre herauspicken.

Stalin und Genossen 1930

AP

Stalin und Genossen 1930

Was Historiker heute meistens nur zögerlich beantworten, sind Fragen nach historischen Vergleichen. Etwa, ob wir heute vor einem Faschismus stehen wie in den 1930er Jahren …

Case: Manche von ihnen denken genau so. Aber was bedeutet das? Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Man könnte sich die Frage stellen: Wie hätten sich die 1930er Jahre anders entwickeln können? So kann sich durch den Vergleich die Geschichte öffnen. Es gibt aber auch eine zweite Möglichkeit: Wenn wir das Ende der Geschichte bereits kennen, sehen wir nicht das Spezielle und die Chancen unserer heutigen Situation. Dafür gibt es wunderbare Beispiele. Die Bolschewiken etwa haben sich gefragt, an welchem Zeitpunkt der Französischen Revolution sie gerade waren – um die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Die – in den Worten Hegels – selbstreflektierende Geschichte wirkt sich so auf die Gegenwart aus. Die Interpretation wird zum historischen Akteur und die Metageschichte treibt die reale Welt an.

Nicht nur in der Geschichtswissenschaft, auch in der Politik gibt es aktuell wenig Mut zu großen Entwürfen; wenn, dann sind die Utopien rückwärtsorientiert. Sehen Sie da eine Parallele?

Case: Ich würde das als völlige Absenz eines Zukunftshorizonts bezeichnen. Es ist schwierig, sich eine bessere Zukunft vorzustellen – für sich persönlich vielleicht, aber nicht generell. Dafür gibt es viele Gründe. Einen wichtigen nenne ich „unter-Null-Probleme“. Das sind Probleme, die man gar nicht lösen kann, bei denen man nicht einmal die neutrale Null erreichen kann. Etwa der Klimawandel. Man kann sich vorstellen, dass er weniger katastrophal werden wird als angenommen. Aber man kommt nie über die Null, denn die Erwärmung findet statt – vielleicht werden es vier Grad plus, vielleicht aber auch nur zwei – und das zählt schon als Erfolg und „bessere Zukunft“. Sie ist aber nur weniger schlecht als die anderen vorstellbaren Zukunftsszenarien. Ähnliches betrifft auch Fragen der Ungleichheit. Auch da kommt man nicht über die Null. Das gleiche gilt für Trumps Parole „Make America Great Again“. Damit soll bloß die Uhr zurückgestellt werden. Das ist auch nicht über Null – denn sonst müsste es heißen „Make America better then before“ oder so ähnlich. Man kann sich heute nicht einmal die Null vorstellen, und wenn, dann am ehesten im Zusammenhang mit postapokalyptischen Szenarien; wo es wieder besser wird, weil das Schlimmste bereits zurückliegt. Apokalyptisches Denken ist heute weit verbreitet, was ich einigermaßen verstörend finde – denn es kann zu dem Schluss führen, den schlechten Weg, auf dem wir uns befinden, noch mehr zu verschlechtern, damit wir schneller zum erlösenden Moment auf der anderen Seite der Katastrophe kommen.

US-Präsident Donald Trump vor der Mauer zu Mexiko

APA/AFP/Saul Loeb

US-Präsident Donald Trump vor der Mauer zu Mexiko

Manche ihrer Kolleginnen und Kollegen vergleichen die Gegenwart deshalb mit den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg …

Case: Ich bin da sehr empfindlich. Natürlich gab es damals ein Katastrophendenken. Viele dachten, dass man die Probleme der Zeit nur lösen könne, wenn man sie alle auf einmal löst. Und das ginge nur tabula rasa, und das hieß mit einem Weltkrieg. Ein solches Denken sehe ich heute nicht, auch wenn es alle Arten von Katastrophenszenarien gibt. Als Historikerin sage ich: Es spielt eine Rolle, was wir denken und sagen. Wenn ich meine apokalyptischen Vorstellungen ausdrücke, sind sie als Möglichkeit in der Welt. Andere hören sie, nehmen sie auf, reagieren auf sie und tragen sie vielleicht weiter. Damit wird die Welt zwar nicht groß verändert, aber zu einer Stimmung beigetragen. Ich denke, es ist wichtig, diese Stimmung positiv mitzugestalten.

Ok, dann bitte einen positiven Gedanken zum Abschluss!

Case: (lacht) Gerne! Und zurück zu Luther-Kings moralischem Bogen, der sich langsam aber sicher zur Gerechtigkeit neigt. Viele kritisieren das, weil es nur ein Traum sei und naiv dazu. Ich denke hingegen, dass Luther-King sehr schlau war. Er hat auch gesagt: Es kann sein, dass Jesus auf dem Kreuz stirbt und der Kaiser weiter auf seinem Thron sitzt. Aber in dem Moment, wo das passiert, teilt sich die Geschichte in verschiedene Möglichkeiten auf. Manchmal kann ein historischer Weg wie erwartet in die Katastrophe führen. Für Christen ist Jesus am Kreuz und der Kaiser am Thron das schlimmstmögliche Ergebnis, aber auch die Erfüllung aller Prophezeiungen. Genauso können sich aber auch positive Geschehnisse ereignen wie erwartet. Entscheidend ist unsere Fähigkeit, Dinge mit Bedeutung zu versehen. Sie kann die Gegenwart verändern, aber auch die Geschichte selbst. Sie kann den Sinn der Vergangenheit verändern und das, was die Gegenwart ist. Man kann den christlichen Aspekt dieses Gedankens akzeptieren oder nicht; aber die Idee, dass es eine enorme Kraft ist, Geschichte zu interpretieren, hat Luther-King genau erkannt - ohne naiv zu sein.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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