Wer gehört zu Europa?

30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und 15 Jahre nach der großen EU-Osterweiterung besteht die Kluft zwischen Ost und West noch immer. Mittel- und Osteuropa sind in der EU unterrepräsentiert – das lässt sich auch an Zahlen festmachen.

Nur zwölf Prozent der EU-Delegierten, die die Union bei Drittstaaten oder internationalen Organisationen vertreten, kamen letztes Jahr aus mittel- und osteuropäischen Staaten (dazu zählen alle Länder, die seit 2004 der EU beigetreten sind, außer Malta und Zypern). Bei den Spitzenjobs in den wichtigsten EU-Institutionen sieht es ähnlich aus, sagt Politikwissenschafter Sebastian Schäffer vom Institut für den Donauraum und Mitteleuropa.

Stacheldrahtzaun, Wachturm und Panzersperren: Die letzten Barrieren des ehemals bestehenden Eisernen Vorhangs

APA/ANDREAS TROESCHER

Der Eiserne Vorhang ist längst gefallen, doch in den Köpfen besteht die Trennung weiterhin

Bei den Kommissionspräsidenten, Ratspräsidenten, Parlamentspräsidenten und Außenbeauftragten der EU lag der Anteil der Mittel- und Osteuropäer in den letzten 15 Jahren bei 13 Prozent. Und die aktuelle Neubesetzung setzt diese Tendenz fort: Mit Ursula von der Leyen, Charles Michel und Josep Borrell wird eine Deutsche Kommissionspräsidentin, ein Belgier Ratspräsident und ein Spanier Außenbeauftragter.

Gemeinsames Narrativ fehlt

„Wenn wir uns anschauen, welche Institutionen sich in den neuen Mitgliedsstaaten befinden, dann müssen wir sagen: keine“, so Schäffer. Laut ihm wurde eine Chance verpasst, als die Europäische Arzneimittelagentur EMA und die Europäische Bankenaufsichtsbehörde EBA im Zuge des Brexit von der Insel auf den Kontinent verlagert wurden. Die EMA ging nach Amsterdam, die EBA nach Paris. „Es kann bei so einer Entscheidung zwar nicht das einzige Kriterium sein, dass ein neues Mitgliedsland zum Zug kommt, aber natürlich trägt das dazu bei, dass die Europäische Union in den mittel- und osteuropäischen Staaten nicht ankommt“, sagt der Politikwissenschaftler.

Sendungshinweise

Dem Thema widmen sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: Ö1, 25.10., 13:55; sowie der dritte Teil der Doku-Reihe „Die Europa-Saga. Wer wir sind, woher wir kommen“ Universum History, ORF 2, 25.10., 22:35.

Über 70 Jahre Frieden auf dem Kontinent – das sei eines der wichtigsten, identitätsstiftenden Narrative der EU. Dies ist allerdings eine westeuropäische Erzählung, ein Blick auf den Balkan genügt, um zu sehen, dass von 70 Jahren Frieden keine Rede sein kann. Schäffer dazu: „Es ist uns nicht gelungen, ein zusätzliches Narrativ nach der Erweiterung zu schaffen. Denn wir vergessen, dass der Kontinent über Jahrzehnte geteilt war und dass damals natürlich andere Narrative wichtig waren. Diese Dominanz der westeuropäischen EU-Narrative trägt zu den aktuellen Herausforderungen bei.“

Aufklärung: Der unzivilisierte Osten

Die Geschichte des geteilten Europas während des Kalten Krieges und die Entstehung der Europäischen Union in Westeuropa wirken also noch nach. Laut der Osteuropa-Historikerin Kerstin Jobst von der Uni Wien gehe die westeuropäische Dominanz noch weiter zurück und habe ihre Ursachen auch darin, dass Europa und seine geographische Ausdehnung im Laufe der Geschichte sehr unterschiedlich definiert wurden.

Trailer zum dritten Teil der Europa-Saga

Die Aufklärung habe eine wesentliche Rolle bei der Unterscheidung zwischen West- und Osteuropa gespielt: „Der Diskurs der Aufklärer und Enzyklopädisten ging von einem abnehmenden Zivilisationsgrad von West nach Ost aus und grenzte sich vom Osten ab.“ Vom Mittelalter bis in die Neuzeit wurde Europa in den Debatten der Eliten als Christianitas, die Gemeinschaft der Christenheit, definiert. Das umfasste auch die orthodoxe Kirche im östlichen Europa, so die Historikerin. Mit der Aufklärung trat diese Definition in den Hintergrund und Osteuropa wurde als weniger zivilisiert und damit weniger europäisch wahrgenommen. So setzte sich langsam eine Definition Europas durch, die „westzentriert“ ist, allerdings nur in Westeuropa: Denn in Mittel- und Osteuropa nehme man sich selbstverständlich als Teil Europas wahr, sagt die Historikerin.

Europa von oben bei Nacht

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Was eint diesen Kontinent?

Das zeigt sich etwa in den aktuellen Eurobarometer-Umfragen, in denen unter anderem die Frage gestellt wird, ob man sich „als Bürger der EU“ fühle. Hier lässt sich nur ein leichtes Ost-West-Gefälle feststellen. Zwar ist das Gefühl, sich als Bürgerin oder Bürger der EU zu fühlen, in Luxemburg mit 93 Prozent am stärksten und in Bulgarien mit 52 Prozent am schwächsten ausgeprägt, die zweitniedrigsten Zustimmungswerte finden sich allerdings im Gründungsland Italien und in Griechenland mit je 57 Prozent. Die Erweiterungsländer Polen und Ungarn liegen mit je 84 Prozent im ersten Drittel. Österreich befindet sich übrigens mit 80 Prozent im Mittelfeld. Das Zugehörigkeitsgefühl zur EU ist nicht mit jenem zu Europa gleichzusetzen, für letzteres fehlen allerdings die Daten.

Die EU ist nicht Europa

Wenn Kerstin Jobst ihre Studierenden in Wien fragt, welche Länder für sie zu Europa gehören, dann antworten viele, dass das die EU-Mitgliedsstaaten seien. Diese Definition Europas schließe natürlich einige Staaten aus, die nach der heutigen Grenze Europas – dem Uralgebirge – zum Kontinent zählen.

Auch Politikwissenschaftler Schäffer weiß zu berichten: „Wenn ich in der Ukraine bin, höre ich oft: ‚Ihr in Europa…‘ Gemeint ist dann die EU. Die EU und Europa sind zwei verschiedene Dinge, die oft vermischt werden.“ Zahlen darüber, inwiefern sich Menschen beispielsweise in der Ukraine oder in Albanien als Europäerinnen und Europäer fühlen, gibt es nicht. Die aktuelle Enttäuschung in Albanien und Nordmazedonien über die eingefrorenen EU-Beitrittsgespräche lässt allerdings darauf schließen, dass der Wunsch, dazuzugehören, ausgeprägter ist, als man es im Westen gerne hätte.

Katharina Gruber, ORF-Wissenschaftsredaktion

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