K.I.-nesische Spuren

Künstliche Intelligenz und kybernetische Regelkreise bestimmen heute unseren Alltag. Der Kulturwissenschaftler Paul Feigelfeld hat die historischen Spuren dieser Technologien untersucht – und wurde im alten China fündig. Ein Gastbeitrag.

Im Jahr 1591 wird das letzte Mal gezaubert: Der französische Jurist, Kryptologe und Hobbymathematiker Francois Viète benutzt zum ersten Mal Buchstaben zum Rechnen, eine Idee, die ihm beim Entschlüsseln geheimer Botschaften der spanischen Liga gekommen ist. Der Zauber- oder Zeichentrick dabei ist, dass von nun an mit Variablen gerechnet werden kann, Buchstabencontainern, in denen alles sein kann. Mit Buchstaben ist jetzt alles mach- und lösbar, nicht nur Dichtung, sondern auch Wahrheit.

Paul Feigelfeld

Marcella Ruiz Cruz

Über den Autor

Paul Feigelfeld ist studierter Kulturwissenschaftler und Informatiker, hat an der Berliner Humboldt-Universität in den Fächern Mediengeschichte und -theorie geforscht und ist derzeit am Internationalen Zentrum Kulturwissenschaften (IFK) als Junior Fellow tätig, Projekttitel: „The Great Loop Forward. Kybernetische Unvollständigkeit zwischen China und Europa 1700–2000“. Am 4. November berichtet er in einer IFK-Lecture über seine Forschungen.

Briefe aus China

Viètes letzte Zauberformel ist die erste mathematische Formel, ab jetzt dämmern nur noch Götter – Gleichungen gehen auf. Zur selben Zeit, als die alphabetische Welt Europas denkt, endlich alles fest im Griff zu haben, flattern erste Briefe aus China daher und berichten von einer Sprache und Schrift, die sich jenseits von Gut und Böse oder Vokal und Konsonant abspielt. Europa ist entsetzt und entzückt gleichermaßen von diesen an die 80.000 Zeichen und ihrer Ungeordnetheit im Gegensatz zu den feinsäuberlichen Regeln des begrenzten ABC.

Die einen sind sich sicher, im Chinesischen die Ursprache wieder zu entdecken, die weltweit vor dem babylonischen Sprachzerfall geherrscht hat, die anderen wiederum, es sei „durch Gottes Verhängniss vom Teuffel eingeführet / damit er die elenden Leute in der Finsterniss der Abgötterei destomehr verstricket halte“. Wieder andere vermuten darin eine Sprache vom Mond – so weit ist China um 1600 von Europa entfernt. Oder aber eine Art Alphabet der Gedanken, das nicht einfach Laute, Silben, Worte abbildet und überträgt, sondern direkt Ideen, Konzepte, Gedanken, ganze Denkprozesse eigenständig zu entwickeln in der Lage ist. Unter heutigen Bedingungen würde man es eine künstliche Intelligenz nennen: K.I.-nesisch.

Westöstlicher Wissenstransfer

In China etablieren die jesuitischen Missionare im Laufe des 17. Jahrhunderts weniger eine religiöse Mission als vielmehr eine wissenschaftliche Transmission. Es werden nicht Bibeln, sondern mathematische und astronomische Werke übersetzt. Mit dieser sogenannten „Akkomodationsmethode“ forschen sich die Jesuiten ins Herz der Verbotenen Stadt und werden so zu den zentralen Akteuren eines Wissens- und Kulturtransfers, der bis in unsere Gegenwart reicht.

Chinesische Schriftzeichen in einer Druckerei

APA/AFP/Yamil LAGE

Was mich dabei in meiner Arbeit interessiert, sind nicht nur die sicherlich großen Leistungen westlicher Wissenschaftler und Missionare, sondern die eher im Unter- und Hintergrund laufenden Übertragungsprozesse, vor allem die, die umgekehrt Wissen aus China nach Europa zurückbringen. Sie sind bis heute nicht ausreichend beschrieben. Welche Geschichten schreiben die künstlich intelligenten Zeichen in Europa, wo schreiben sie sich ein, wie lassen sich diese Geschichten übersetzen?

Viele Gelehrte in Europa stürzen sich über die kommenden Jahrzehnte neben der Verzweiflung auch in intensive Studien dieser unentschlüsselbaren Schrift und Sprache. Die Suche nach einer sogenannten „Clavis sinica“, einem Schlüssel zum Chinesischen ist ein vieldiskutiertes Unterfangen. Man vermutet, damit nicht weniger als das Denken selbst entschlüsseln zu können. Preisgelder werden ausgelobt, Scharlatane und Betrüger kassieren ab.

Leibniz und die Folgen

Allen voran Gottfried Wilhelm Leibniz arbeitet intensiv daran, chinesische Wissenssysteme zu verstehen und zu nutzen. Er geht dabei soweit, dass gesagt werden kann, dass ein großer Teil seiner Arbeiten darüber, was Zeichen und Systeme können, wesentlich chinesisch geprägt sind. Das wäre nicht weiter spannend, wären Leibniz‘ Arbeiten auf diesem Gebiet nicht fundamental für unsere heutige technologische Bedingung. In hunderten Briefen entfaltet und verfaltet sich europäisches und chinesisches Wissen zu etwas Neuem: symbolische Operatoren, binäre Zahlen, Differentialgleichungen.

Hexagramme des I Ging aus dem Besitz von Gottfried Wilhelm Leibniz, 1701

Franklin Perkins, gemeinfrei

Hexagramme des I Ging aus dem Besitz von Gottfried Wilhelm Leibniz, 1701

Es gibt also eine chinesische Spur in unserer immer so westlich erzählten Mediengeschichte, die weitaus früher beginnt als bei Foxconn und weitaus tiefer vergraben liegt als die seltenen Erden in der inneren Mongolei. Immer wieder berühren sich China und der Westen, immer brutaler und zerstörerischer werden diese Begegnungen – sei es in Missionen, Kolonisierungen oder Opiumkriegen – und immer subtiler werden die Spuren der Übertragungen.

Als Norbert Wiener die Kybernetik erfand

1935-1936 arbeitet der MIT-Mathematiker Norbert Wiener als Gastprofessor an der Tsinghua Universität in Beijing an analogen Computern und Schaltungen. Parallel dazu lernt er – als Sprachwunderkind – fließend Chinesisch sprechen und schreiben und studiert chinesische Geschichte, Wissenschaft und Philosophie.

Titelblatt von Norbert Wieners Buch "Cybernetics"

Gerd Küveler / gemeinfrei

Seine Kollegen Yuk Wing Lee und Zhao Yuanren werden über die kommenden Jahrzehnte in Harvard und am MIT mit ihm zusammenarbeiten und nach dem 2. Weltkrieg bei den Macy Konferenzen, bei denen die Fundamente der Kybernetik aus den Trümmern des Kriegs zusammengebaut werden, dabei sein.

Die Kybernetik, die Wissenschaft der Steuerung oder „Kontrolle und Kommunikation im Tier und in der Maschine“, wie der Untertitel von Norbert Wieners namensstiftendem Buch von 1948 sagt, basiert wesentlich auf Feedbacks, also Rückkopplungsschleifen. Alles Technische und Natürliche, alles Soziale und Rationale usw. kann, so die Idee der Kybernetik, auf derartige Mechanismen zurückgeführt und so geregelt werden. Eine Idee der harmonischen Steuerung, für die Wiener seine Inspiration nicht nur in Leibniz‘ sogenannter „prästabilierter Harmonie“ findet, sondern natürlich auch in den Kreisläufen der chinesischen Naturphilosophie, dem Yin Yang des Daoismus. Gepaart mit digitalen Computern, die zur selben Zeit in Betrieb gehen, entsteht hier das 21. Jahrhundert.

Zhao Yuanren wird 1949 in einem Brief an seinen Freund Norbert anregen, dass das antike chinesische Spiel Go doch immens interessant im Zusammenhang mit Computern sei. 2016 unterlag erstmals ein Go-Großmeister dem künstlich Intelligenten AlphaGo von Google DeepMind.

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