„Tante Truus“, eine vergessene Heldin

Nach den Novemberpogromen 1938 hat das britische Parlament die Aufnahme von 10.000 jüdischen Kindern erlaubt. Eine niederländische Bankiersfrau erreichte, dass Adolf Eichmann den Kindertransporten zustimmt. Heute ist „Tante Truus“ fast vergessen.

Geertruida Wijsmuller-Meijer wurde 1896 in Alkmaar in Nord-Holland geboren. Nach dem 1. Weltkrieg nahmen ihre Eltern hungernde Kinder aus Deutschland und Österreich auf. Diese Erfahrung prägte sie. Ihr Leben lang engagierte sie sich ehrenamtlich in Hilfsorganisationen. Ab 1933 half sie vor allem jüdischen Kinder bei der Flucht aus dem Dritten Reich. Miriam Keesing, eine niederländische Historikerin: „Sie baute ein riesiges Netzwerk auf, mit jüdischen und nichtjüdischen Helfern, in Deutschland und in den Niederlanden. In jeder Stadt hatte sie jemanden, mit dem sie zusammenarbeitete.“

Geertruida Wijsmuller-Meijer im Jahr 1965 neben einer Büste von ihr (Amsterdam)

Ron-Kroon

Geertruida Wijsmuller-Meijer im Jahr 1965 neben einer Büste von ihr (Amsterdam)

Miriam Keesing stieß bei der Aufarbeitung ihrer eigenen Familiengeschichte darauf, dass ihr Großvater 1938 in Amsterdam einen jüdischen Buben aus Deutschland aufgenommen hatte: Uli Herzberg, geboren 1927, ermordet 1943 in Sobibor. Die Geschichte Ulis brachte Keesing auf die Idee, eine Datenbank aller in den Niederlanden aufgenommenen Flüchtlingskinder aufzubauen. Und dabei stieß sie auf die Geschichte Geertruida Wijsmuller-Meijers: „Kaum jemand weiß, wer sie war und was sie tat. Aber sie sollte die Anerkennung bekommen, die sie verdient!“

Unerschrocken und hartnäckig

Die Novemberpogrome im Dritten Reich führten dazu, dass das britische Parlament Ende November 1938 die Aufnahme von 10.000 Kindern aus Deutschland erlaubte. Noch niemals zuvor war eine Hilfsaktion für so viele minderjährige Flüchtlinge durchgeführt worden. Wijsmuller-Meijers Erfahrungen in der Fluchthilfe aus dem Dritten Reich waren der Grund, dass die britischen Hilfsorganisationen sie Anfang Dezember 1938 um Hilfe baten. Miriam Keesing: „Die NS-Behörden wollten nicht mit den jüdischen Hilfsorganisationen verhandeln. Wijsmuller-Meijer war die Richtige, weil sie eben nicht jüdisch war.“

Sendungshinweise:

Den Kindertransporten nach den Novemberpogromen widmet sich auch die Sendung „Menschen & Mächte: Auf Wiedersehen, Mama! Auf Wiedersehen, Papa! Die Geschichte der Kindertransporte“ am Dienstag, 05.11.2019, um 22:35.

ORF III live: Gedenkmatinee anlässlich der Novemberpogrome, Fr. 08.11.2019, 11:30

Studie:

„Jewish Refugee Children in the Netherlands during World War II: Migration, Settlement, and Survival“, 2019

Noch am selben Tag, dem 2. Dezember 1938, fuhr Wijsmuller-Meijer nach Wien in die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in der Prinz-Eugen-Straße. „Ich verhandle nicht mit Frauen!“ So empfängt Adolf Eichmann die niederländische Flüchtlingshelferin. Wijsmuller-Meijers Antwort: „Ich habe meinen Mann nicht mit, sie werden schon mit mir reden müssen!“ Nach dem Krieg schilderte sie das Treffen im beschlagnahmten Palais Rothschild: „Adolf Eichmann saß in einem großen Raum. Man kam von der Stirnseite hinein, und Dr. Eichmann saß am anderen Ende in einer schwarzen Uniform, mit einer großen Lampe und einem riesigen Hund. Ich ging zu ihm hin und sagte: ‚Doktor, ich bin Frau Wijsmuller und möchte gern mit Ihnen sprechen.“ Eichmann unterzog sie einer rassistischen Examination: ‚Ziehen Sie Ihre Schuhe aus, gehen Sie vor mir auf und ab und heben Sie Ihren Rock über Ihre Knie an!‘ Wijsmuller-Meijer spielte mit, um ihr Ziel zu erreichen. Eichmanns Urteil: „So rein arisch und doch so verrückt!“

Kinder bei den sogenannten Kindertransporten 1938/39

Bundesarchiv

Kinder bei den sogenannten Kindertransporten 1938/39

Nicht verrückt, sondern unerschrocken und hartnäckig rang Geertruida Wijsmuller-Meijer schließlich Adolf Eichmann die Zusage ab, 600 jüdische Kinder innerhalb einer Woche aus dem Dritten Reich mit in die Niederlande nehmen zu dürfen. Eichmann war überzeugt, dass Wijsmuller-Meijer das in so kurzer Zeit nicht umsetzen werde können. Aber „Tante Truus“, wie die Kinder sie nannten, organisierte innerhalb weniger Tage einen Sonderzug. Bereits am 10. Dezember fuhr der erste Kindertransport ab. Die New York Times berichtete: „Der Zug fuhr von der Station Hütteldorf ab und brachte 530 Kinder nach England, 100 in die Niederlande. Die Eltern durften nicht mit auf den Bahnsteig, sondern mussten in nahegelegenen Hotels Abschied nehmen. Eine Mutter starb an einem Herzschlag, als sie ihrem fünfjährigen Sohn den Abschiedskuss gab.“

Von der Gestapo verhaftet

74 Kindertransporte sollten folgen, in den neun Monaten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Fast 10.000 Kinder verdanken „Tante Truus“ ihr Leben, rund 2.800 davon aus Österreich. Nach Kriegsbeginn rettete Geertruida Wijsmuller-Meijer weiter Kinder aus den Niederlanden und dem besetzten Frankreich, indem sie sie nach Spanien oder in die Schweiz brachte. Die Gestapo verhaftete sie, musste sie aber aus Mangel an Beweisen wieder laufen lassen.

Fred Gruber, eines der geretteten Kinder mit seinen Eltern. Nach dem Abschied am Bahnhof 1938 sah er sie nie mehr wieder

Fred Gruber

Fred Gruber, eines der geretteten Kinder mit seinen Eltern. Nach dem Abschied am Bahnhof 1938 sah er sie nie mehr wieder.

Nach 1945 war Geertruida Wijsmuller-Meijer Mitglied im Gemeinderat von Amsterdam und engagierte sich weiter in Sozialprojekten. 1950 erzählte sie im Buch „Geen tijd voor tranen“ (Keine Zeit für Tränen) von ihrer Hilfstätigkeit in den Jahren des Nationalsozialismus. Bis heute ist dieses Buch nicht in deutscher Übersetzung erschienen. 1961 gab sie während des Eichmann-Prozesses Interviews zu ihren Begegnungen mit dem „Fahrdienstleiter des Todes“ in Wien, seit 1966 wird sie in Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt. Dennoch ist Geertruida Wijsmuller-Meijer im Gegensatz zu Männern wie Raoul Wallenberg oder Oskar Schindler bis heute kaum bekannt. Nicht nur Miriam Keesing will das ändern: „1938 war es für eine Frau nicht selbstverständlich, solche Dinge zu tun. Das macht ihre Taten noch bemerkenswerter!“

Robert Gokl, Menschen&Mächte

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