Was Demokratien langfristig schadet

Historisch betrachtet ist die Demokratie eher ein Ausnahmefall. Eine Analyse aus über 100 Ländern und fast 100 Jahren zeigt: Die langfristige Stabilität hängt vor allem von kulturellen Werten ab. Wenn Toleranz und Offenheit schwinden, ist sie bedroht.

Vor fast 200 Jahren kam Alexis de Tocqueville nach seiner Amerika-Reise zum Schluss, dass für eine funktionierende Demokratie bestimmte gesellschaftliche und kulturelle Voraussetzungen notwendig sind. Anders als in vielen Ländern Europas habe es diese in Amerika damals bereits gegeben, wie der französischen Historiker in „Über die Demokratie in Amerika“ berichtete.

Die Studie

”The cultural foundations of modern democracies”, Nature Human Behaviour, 2.12.2019

Heute ist die demokratische Staatsform jedenfalls deutlich häufiger als zu Tocquevilles Zeiten, wobei sie global betrachtet immer noch recht rar ist. Nach den strengen Kriterien des Demokratieindex kann man sogar nur 20 Länder als vollständige Demokratien bezeichnen: An der Spitze liegt in dieser wie auch in anderen Bewertungen Norwegen, Österreich findet sich auf Rang 16.

Welche Werte zählen?

Ob es tatsächlich bestimmte kulturelle Werte waren, die die Demokratien erst möglich machten, ist hingegen nicht entschieden, schreiben die Forscher um Damian Ruck von der University of Tennessee in ihrer soeben erschienenen Studie zum Thema. Es gebe nämlich auch die entgegengesetzte Ansicht, wonach sich die Werthaltungen erst entwickeln, nachdem es bereits demokratische Einrichtungen in einem Land gibt.

Welche Werte ausschlaggebend sind, sei aber auch bei der ersten These unklar. Manche meinen, es gehe um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger - in Institutionen sowie in die anderen Mitglieder der Gesellschaft. Andere glauben genau das Gegenteil: Gerade eine gewisse Skepsis sei notwendig für funktionierende Demokratien. Für manche wiederum sind die wichtigsten demokratischen Werte Toleranz und Offenheit für Vielfalt. Das ermöglicht friedliche Auseinandersetzungen und verhindert ein reines Lagerdenken.

100 Jahre Demokratien

Die verschiedenen Ansätze hat Rucks Team nun mit Hilfe eines umfassenden Datensatzes untersucht. Verwendet wurde zum einen der World Values Survey und die European Values Study, für die seit den 1970er bzw. 80er Jahren soziologische Befragungen durchgeführt werden. Daraus wurde der Stellenwert von Offenheit, Vertrauen, institutionellen Vertrauen und die Unterstützung für Demokratien in 109 Ländern ausgelesen, das waren Daten von insgesamt mehr als 476.000 Personen.

Aus den Angaben älterer Menschen wurden auf die Werthaltungen in früheren Jahrzehnten zurückgeschlossen, da diese – so die Studienautoren – meist in früheren Lebensphase entstehen und im Alter meist ähnlich bleiben. Korreliert wurden die so entstandenen Zeitreihen mit Daten aus dem Maddison Project, das wirtschaftliche Daten sammelt, sowie dem Polity IV Project, das - ähnlich wie der Demokratieindex – misst, wie demokratisch ein Land ist.

Zweischneidiges Schwert

Die statistische Analyse ergab, dass wohl tatsächlich bestimmte Werte den Weg für positive wirtschaftliche Entwicklung sowie demokratische Verhältnisse bereiten: Offenheit ist demnach ein ziemlich guter Gradmesser dafür, wie demokratisch eine Nation 30 Jahre später sein wird. Nicht ganz so ausgeprägt, aber doch vorhanden war der Zusammenhang zwischen einer gewissen Skepsis gegenüber Institutionen und der späteren Demokratie.

Das mangelnde Vertrauen in öffentliche Einrichtungen sei aber ein zweischneidiges Schwert, schreiben die Autoren: In manchen Ländern führe es zu mehr Demokratie, in andere entwickeln sich hingegen autokratische Tendenzen. Wenn also – wie derzeit in manchem westlichen Land - das Vertrauen in Politik und Medien schwindet, könne das die demokratische Ausrichtung auch gefährden. „Im 20. Jahrhundert haben wir erlebt, wie aus Autokratie mit geringerem inneren Vertrauen Demokratien wurden“, erklärt Ruck in einer Aussendung. „Es kann aber auch andersrum laufen: Aus Demokratien mit wenig Vertrauen werden Autokratien.“

Wenn Offenheit und Toleranz schwinden, könnte das ein solche Entwicklung begünstigen. „Der Aufstieg von nationalistischen Politikern könnte ein Anlass zur Sorge sein“, meint Ruck dazu. Global betrachtet sei die Entwicklung aber eigentlich positiv. Man sei heute auf der ganzen Welt viel öfter mit verschiedenen Menschen und anderen Lebensstilen konfrontiert, das erzwinge mehr Offenheit und Toleranz, meint Ruck. „Das sind gute Nachrichten für die Zukunft der liberalen Demokratie.“

Eva Obermüller, science.ORF.at

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