Erinnerungskultur unter Kontrolle

Es ist 30 Jahre her, dass die Sowjetunion ihre Archive zum Stalinismus geöffnet hat. Doch bald schlossen sich diese Türen wieder. Denn, so die Historikerin Nanci Adler, die politischen Eliten wollten die Erinnerungskultur stets kontrollieren - bis heute.

Josef Stalin herrschte mehr als 25 Jahre als Diktator über die Sowjetunion. Bis heute ist nicht klar, wie viele Menschenleben den „Stalinschen Säuberungen“ zum Opfer fielen. Man weiß mittlerweile, dass in den Jahren des „Großen Terrors“, von 1936 bis 1938, täglich eintausend Menschen ermordet wurden. Doch wie viele verhungerten, bei Zwangsumsiedlungen vor Erschöpfung starben und in den Arbeitslagern, dem Gulag, zusammenbrachen, kann größtenteils nur geschätzt werden. Die Zahlen reichen von vier Millionen Opfern bis zu mehr als 22 Millionen.

1989: Zeit der Öffnung

Die Schicksale der Opfer des Stalinismus zu erforschen, gehört zu Nanci Adlers wissenschaftlichen Schwerpunkten. Die Historikerin, die heute an der Universität Amsterdam den Lehrstuhl für Memory, History and Transitional Justice innehat, hatte 1989 erstmals die Möglichkeit, sowjetische Archive zu besuchen und offizielle wie persönliche Dokumente aus der Zeit des Stalinismus einzusehen. Sie konnte außerdem mit Menschen sprechen, die den Gulag überlebt hatten.

Russisches Gulag-Museum in Perm (Sibirien)

AP Photo/Alexander Agafonov

Russisches Gulag-Museum in Perm

„Damals sagten meine Interviewpartner, die den Gulag überlebt hatten, dass es wohl noch eine Generation brauchen werden, um wirklich frei über die Verfolgungspolitik unter Stalin sprechen zu können“, sagte Adler, die vor Kurzem im Rahmen der Simon Wiesenthal Lectures zu Gast am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien war. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen setzten große Hoffnungen in jene Generation, die heute Mitte 30 ist. Erfüllt haben sich diese nicht unbedingt. Denn was Stalin und die Erinnerungskultur betrifft, ist die russische Bevölkerung beinahe gespalten.

2017: Jahrestag ohne Folgen

2017, zum einhundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution, bestätigte ein Meinungsforschungsinstitut die wachsende Popularität Stalins. 46 Prozent der befragten Russinnen und Russen äußerten sich positiv über den einstigen „Vater der Nation“. Fünf Jahre zuvor waren es erst 28 Prozent gewesen. Eine Wählergruppe, mit der es sich der regierende Präsident Wladimir Putin nicht verscherzen möchte. Während die russischen Eliten Wladimir Iljitsch Lenin ablehnen und die Oktoberrevolution als Putsch verurteilen, fällt das Urteil Stalin gegenüber milder aus.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmete sich auch ein Beitrag im Dimensionen Monatsmagazin. 12.12., 19.05 Uhr.

Ein dunklerer Aspekt der russischen Geschichte sei das, aber Schuldgefühle brauche man sich nicht machen lassen, hat man Putin bereits sagen hören. Deswegen konzentriere sich die staatliche gelenkte Erinnerungskultur auch auf die Opfer und nicht auf die Täterinnen und Täter, sagte Adler. Als Putin 2017 „Die Mauer der Trauer“ enthüllte, ein Denkmal, das an die Opfer des Sowjetsystems erinnern soll, tat er das gemeinsam mit Patriarch Kyrill I., dem Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche.

Moskau heute, im Vordergrund der Stern auf einem der Stalin-Hochhäuser

AP Photo/Dmitry Serebryakov

Moskau heute, im Vordergrund der Stern auf einem der Stalin-Hochhäuser

„Geht es darum, die Erinnerungspolitik und die Erzählungen über den Stalinismus zu kontrollieren, sind Politik und Kirche in Russland Verbündete“, so Adler. Beide seien bereit, auf die Opfer zu schauen, nicht aber über die Täter zu sprechen. Mahnmale, die an die Täter und Orte der stalinschen Säuberungen erinnern, sucht man in Russland vergebens. Ein Grund dafür ist, dass immer noch viele prostalinistisch oder zumindest prosowjetisch eingestellt sind.

2019: Erinnerungskultur ohne Zukunft

Vor 30 Jahren herrschte nicht nur in der Bevölkerung eine Aufbruchsstimmung. Die Menschenrechtsorganisation Memorial entstand, die sich für die soziale Absicherung von Gulag-Überlebenden einsetzte. Und lange verschlossene Archive öffneten ihre Türen, selbst für ausländische Wissenschaftlerinnen. Das änderte sich bereits Anfang der 2000er, erzählte Adler. Heute sei es unmöglich, Zugang zu diesen Archiven zu bekommen.

Aus Mangel an Perspektiven schauen heute viele Russinnen und Russen auf die vermeintlich strahlende Vergangenheit zurück und loben die Errungenschaften der Sowjetzeit. Auch das präge die Erinnerungskultur im Land und beeinflusse die wissenschaftliche Aufarbeitung der Sowjetgeschichte in Russland, meinte die Historikerin. Russische Forschungseinrichtungen wurden angewiesen, ihren Kontakt mit ausländischen Institutionen zurückzuschrauben. Das habe es seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben. „Historiker haben gerade keine gute Zeit in Russland“, so Adler.

Marlene Nowotny, Ö1-Wissenschaft

Mehr zu dem Thema: