Die Soziologie und die Nazis

Die Soziologie hat sich noch später als andere Disziplinen mit ihrer Rolle im Nationalsozialismus befasst. Das hat „typisch österreichische“ Ursachen, liegt aber auch am Fach selbst, wie es in einem vor Kurzem erschienenen Buch heißt.

„Die meisten Vertreter und Vertreterinnen der Soziologie wurden im Nationalsozialismus ins Exil gedrängt, das Fach hat in der Zeit deshalb eine geringere Rolle gespielt als etwa die Geschichtswissenschaft“, resümiert Christoph Reinprecht, Buchherausgeber und Soziologe an der Uni Wien. Was nicht heißt, dass die NS-Politik nicht an bestimmten Bereichen der Forschung Interesse zeigte, allen voran an demografischen Studien.

Spann: NS-Vordenker und „Widerstandskämpfer“

In den 1930er Jahren entstandene Werke wie die „Arbeitslosen von Marienthal“ von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel sind heute Klassiker der empirischen Sozialwissenschaft. Benachbarte Disziplinen wie die Psychologie, Philosophie und Staatswissenschaft waren damals an Österreichs Universitäten aber viel besser verankert als die Soziologie.

Buch

Andreas Kranebitter / Christoph Reinprecht (Hg.): Die Soziologie und der Nationalsozialismus in Österreich, Transcript-Verlag 2019 (Leseprobe)

Soziologen gab es dennoch, etwa Othmar Spann, dessen Staatslehre im Austrofaschismus sehr einflussreich war – „ein gutes Beispiel für Kontinuität und Diskontinuität zugleich“, wie Reinprecht meint. Spann habe sich selbst als Vorreiter des Nationalsozialismus gesehen, sich nach dem Weltkrieg aber als Widerstandskämpfer stilisiert. Dass er in einem KZ interniert gewesen ist, wie in seinem Wikipedia-Eintrag bis heute steht, sei eine Legende.

Othmar Spann

ÖNB

Othmar Spann

Aufbauforschung aber keine Aufarbeitung

Nach 1945 hat die Soziologie an die Methodik einer empirischen Sozialwissenschaft à la Jahoda und Co angeschlossen, zugleich aber versucht, Gesellschaftstheorien und „ideologischen Ballast“ abzuwerfen. „Leopold Rosenmayr, der bekannteste Repräsentant des Fachs der Nachkriegszeit, meinte programmatisch, dass die Soziologie Aufbau- aber nicht Aufarbeitungsforschung leisten sollte“, so Reinprecht. „Die Soziologie beschäftigte sich damals mit Phänomenen der Gegenwart, schnitt sich aber von der Vergangenheit und ihren Gesellschaftserklärungen ab. Damit war auch der Nationalsozialismus gewissermaßen außen vor.“

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 18.12., 13:55 Uhr.

Ein Beispiel betrifft die sogenannte „Krise der Jugend“. Warum junge Menschen so sind, wie sie sind, wurde bereits in den 50er Jahren zwar auf empirischem Niveau untersucht, die Forschung wies aber eine große Lücke auf. „Arbeit, Beruf und Freizeit wurden thematisiert, nicht aber, welche Rolle der Nationalsozialismus in der Familie spielt und wie er mit der Sozialisation der jungen Menschen zu tun hat.“ Ein weiteres Beispiel ist die Wohnungspolitik. In den 50er Jahren wurde viel in den Wohnbau investiert, die Sozialforschung leistete dabei ihren Beitrag. „Dass im Nationalsozialismus aber 70.000 arisiert wurden, war kein Thema“, erzählt Reinprecht.

Studenten auf der Rampe der Wiener Universität im März 1938 beim "Deutschen Gruß"

ÖNB

Studenten auf der Rampe der Wiener Universität 1938 beim „Deutschen Gruß“

Pollak und Co. mussten ins Ausland gehen

In Frage gestellt wurde diese Tradition erst mit der Studentenbewegung ab den späten 60er Jahren. Zu einem Zeitpunkt also, an dem Soziologie überhaupt erst als eigenständiges Studium absolviert werden konnte, an der Uni Wien war das erst 1966 der Fall. Persönliche Kontinuitäten wurden erstmals kritisiert und die ins Exil vertriebenen Forscher und Forscherinnen sowie ihre Werke wiederentdeckt.

Ein gutes Beispiel für diese Zeit ist der hierzulande wenig bekannte Soziologe Michael Pollak. Er war einer der ersten, der in Österreich das Studium der Soziologie – konkret: in Linz – absolviert hat. Weil er mit seinem kritischen Verständnis des Fachs in Österreich schnell an Grenzen gestoßen ist, ging er nach Paris und dissertierte bei Pierre Bourdieu. „Pollak fragte sich, wie Erfahrungen von Konzentrationslagern überhaupt erinnerbar und erforschbar sind - Forschungsfragen, die zu dem Zeitpunkt in der österreichischen Soziologie nicht gestellt werden konnten“, erzählt Reinprecht. „Die Generation um Pollak musste in andere Länder gehen, um sich zu entfalten.“

Wiederentdeckung der F-Skala

Noch länger dauerte es laut Reinprecht, bis an Forschungen zur Entstehung des Faschismus angeknüpft wurde, zu der die Soziologie wichtige Beiträge geleistet hat. Die Faschismus-Skala etwa von Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik und Kollegen, die Eigenschaften und Einstellungen autoritärer Persönlichkeiten misst, stammt aus dem Jahr 1950.

Erst in den vergangenen Jahren habe sich in Österreich daran wieder vermehrt Interesse entwickelt, sagt Reinprecht, und dies sei nicht zuletzt Ausdruck der geänderten politischen Rahmenbedingungen. „Autoritäre Tendenzen gewinnen heute wieder an Bedeutung und damit auch die Frage, was die Soziologie zur Klärung dieser Phänomene beitragen kann.“

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

Mehr zum Thema: