Die Riesenwelle in der Milchstraße

Seit Jahrhunderten richten Astronomen ihre Teleskope ins Weltall – doch erst jetzt wird ihnen bewusst: Der Himmel ist von einer gigantischen Welle aus Staub und Sternen bedeckt. Warum wurde die Riesenstruktur so lange übersehen?

In der Fabel „Der Neugierige“ von Iwan Andrejewitsch Krylow (1769-1844) spaziert ein Mann durchs Naturkundemuseum. Er betrachtet die Raubtiere und Vögel, studiert selbst die winzigsten Insekten, bis er alle anatomischen Details gesehen hat. Und so verlässt der Mann das Museum nach drei Stunden wieder, tief beeindruckt von der Formenfülle der Natur. Nur: Den Elefanten, das größte und offensichtlichste Tier - den hat er übersehen.

Überraschende Einsichten in 3-D

Manchmal passiert so etwas auch im wirklichen Leben. Der Elefant im Raum ist in diesem Fall eine Wolke von Staub und Sternen, so groß, dass sie den halben Himmel bedeckt. Entdeckt wurde sie von einem Team um Joao Alves, Astronom von der Uni Wien. „Als ich vor zwei Jahren mein Sabbatical an der Harvard University verbrachte, hatte ich ein einfaches Ziel: Ich wollte die bisher genaueste 3-D-Karte der näheren Umgebung unseres Sonnensystems erstellen.“ Das ist Alves auch gelungen. Doch was die Karte zeigte, verblüffte ihn und sein Forschungsteam.

Wellenförmige Sternenfabrik in der Milchstraße

Alyssa Goodman / Harvard University

Der Elefant im Raum: 10.000 Lichtjahre misst die jetzt entdeckte Welle

Der sogenannte Gould’sche Gürtel, eine seit Mitte des 19. Jahrhunderts bekannte Ansammlung junger Sterne, ist in Wahrheit kein Gürtel, sondern bloß Teil einer noch viel größeren, wellenförmigen Struktur, die offenbar bisher niemand wahrgenommen hat. „Es ist so, als würde man direkt vor einer Hausmauer stehen“, sagt Alves. „In dieser Situation ist es schwierig, die wirkliche Größe des Gebäudes abzuschätzen.“ Möglich war das erst durch die hochauflösenden Daten des ESA-Satelliten Gaia, der seit 2013 seinen Dienst im Weltraum versieht.

Werk der Dunklen Materie?

„Radcliffe-Welle“ heißt die Struktur nun zumindest inoffiziell (benannt nach dem Radcliffe Institute for Advanced Study in Harvard). In dieser 10.000 Lichtjahre langen Sternenfabrik befand sich einst auch die Erde. Wie die Forscher berechnet haben, flog unser Sonnensystem vor etwa 13 Millionen Jahren durch diese Riesenwelle und bekam währenddessen wohl auch die eine oder andere Dosis Strahlung von Supernovae ab. Spuren dieser Passage sollten heute noch auf der Erde zu finden sein, etwa in Form von Eisen-Isotopen am Grund der Ozeane.

Wie die Radcliffe-Welle zu ihrer auffälligen Form kam, wissen die Forscher nicht. Die naheliegendste Erklärung wäre, dass eine nicht allzu weit entfernt rotierende Zwerggalaxie mit ihrer Schwerkraft an den Gas- und Staubwolken gezerrt hat. Eine solche Zwerggalaxie wurde allerdings noch nicht gefunden. So haben Alvarez und sein Team auch exotischere Erklärungen auf ihrer Liste.

Eine lautet: Vielleicht existiert in unmittelbarer Nähe der galaktischen Mittelebene ein Klumpen Dunkler Materie, der – obwohl unsichtbar – genügend Masse versammelt, um so eine Wirkung zu entfalten. Das vermutet übrigens auch Alves‘ Fachkollegin Lisa Randall. Die theoretische Physikerin von der Harvard University kann sich sogar vorstellen, dass die Dunkle Materie vermittels ihrer Schwerkraft alle paar hundert Millionen Jahre für Meteoritenschauer auf der Erde gesorgt – und auf diese Weise immer wieder Massensterben ausgelöst hat, denen nicht zuletzt auch die Dinosaurier zum Opfer gefallen sein könnten. Bewiesen ist das nicht, berechnen lässt sich jedenfalls: In 15 Millionen Jahren wird unser Planet die Radcliffe-Welle erneut passieren.

Robert Czepel, science.ORF.at

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