„Gefährdung nur mehr Frage der Zeit“

Immer mehr Medikamente sind in Österreich nicht verfügbar. Das Problem hat sich im vergangenen Jahr stark verschärft. Die Gründe dafür sind komplex, Gewinnmaximierung und Versorgungssicherheit stehen im Widerspruch. Eine Spurensuche.

Kopfwehpulver, Bluthochdrucksenker, Antidepressiva, Antibiotika, Impfstoffe – quasi alle Medikamentengruppen sind betroffen. „Derzeit sind etwa 220 bis 230 Produkte in Österreich nicht erhältlich“, berichtet Christa Wirthumer-Hoche, Leiterin der Medizinmarktaufsicht bei der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES). Lieferengpässe müssen nicht gemeldet werden – der tatsächliche Mangel könnte also noch viel höher liegen.

Es gibt auch kein zentrales Register, in dem etwa Ärztinnen und Ärzte kontrollieren können, ob das von ihnen verschriebene Präparat momentan überhaupt verfügbar ist. „Unsere Computersoftware wird zwar einmal monatlich aktualisiert, aber wenn ein Medikament inzwischen plötzlich nicht mehr vorhanden ist, sehe ich das nicht“, erklärt Allgemeinmedizinerin Naghme Kamaleyan-Schmied, die eine Praxis im 21. Wiener Gemeindebezirk führt.

Eine Apothekerin greift in eine Schublade mit Medikamenten

ORF.at/Birgit Hajek

Das bringt einen erheblichen Mehraufwand mit sich – für alle Beteiligten. Der Patient ist gezwungen, sich ein neues Rezept beim Arzt ausstellen zu lassen und dann nochmals in die Apotheke zu gehen. Die Ärztin muss ein Ersatzpräparat finden, dass die Patientin – unter Berücksichtigung von Allergien oder Vorerkrankungen – gut verträgt. Hinzu kommt eine enorme Belastung des Gesundheitssystems. Denn neben dem zusätzlichen Behandlungsaufwand sind auch die Ersatzpräparate oder die Extrabestellungen der Originalarzneimittel – die einige Tage in Anspruch nehmen können – um ein Vielfaches teurer.

Audio - Kamaleyan-Schmied über die aufwendige Prozedur der Extrabestellungen:

„Dann kann es brenzlig werden“

„Meine Patienten sind erbost, zu Recht. Denn wenn etwa eine ältere Dame, die ihre Medikamente braucht, dann dreimal den Weg zur Apotheke mit ihrem Rollator gehen muss, ist das natürlich sehr aufreibend.“ Generell sei es für einen Patienten nicht förderlich, als Kranker hin und her geschickt zu werden. „Und wenn der Harnwegsinfekt nicht behandelt wird, weil die Patientin am Freitag in der Apotheke landet und sich denkt: Pfeif drauf, ich hol es mir gar nicht mehr – und sie kriegt anschließend eine Blutvergiftung, dann kann es natürlich brenzlig werden“, so die Ärztin.

Ö1-Sendungshinweis

Dimensionen: „Ausverkauft! Wie viele Medikamente braucht Österreich?“ am Dienstag, 14.01, ab 19.05 Uhr.

Bisher sei noch niemand aufgrund der Lieferengpässe zu Schaden gekommen, heißt es vonseiten der AGES. Auch Gerald Bachinger, Leiter der Patienten- und Pflegeanwaltschaft in Niederösterreich, sind noch keine diesbezüglichen Fälle bekannt: „Aber ich denke, das ist nur mehr eine Frage der Zeit. Ich warte eigentlich täglich darauf, dass Beschwerden auf unseren Tisch flattern. Fälle, in denen es nicht nur zu mehr Aufwand oder zusätzlichen Kosten für Patienten gekommen ist, sondern wo der Medikamentenmangel wirklich zu gesundheitlichen Problemen – die entsprechend nachgewiesen werden können – geführt hat.“

Auch AGES-Expertin Wirthumer-Hoche räumt ein, dass eine mögliche Patientengefährdung vor der Tür stehen könnte, sofern sich das Problem weiter verschärft. „Wir sprechen hier von unter einem Prozent des gesamten Medikamentenschatzes. Das heißt, die Industrie hat eine Volllieferfähigkeit von über 99 Prozent“, beruhigt hingegen Alexander Herzog – Generalsekretär des Verbands der pharmazeutischen Industrie in Österreich (Pharmig). Er betont, dass es für jedes nicht lieferbare Arzneimittel ein entsprechendes Ersatzpräparat gebe.

Gibt es für jedes Medikament ein Ersatzpräparat?

Aber ist dem tatsächlich so? Die Allgemeinmedizinerin Kamaleyan-Schmied schüttelt den Kopf und verweist auf ein zu injizierendes Magenschutzmittel. „Das war jetzt ein, zwei Monate nicht verfügbar. Es gab zwar als Alternative Tabletten, aber stellen Sie sich vor, Sie haben eine ganz starke Übelkeit und Sie können den Magenschutz nicht schlucken, weil das ja quasi wieder rauskommt – dann wäre es gut, das zu spritzen. Wenn also ein Patient akut zu mir gekommen wäre und er hätte eine Infusion mit dem Magenschutzmittel gebraucht, ich hätte ihm nicht helfen können.“ Für Impfungen existieren überhaupt keine Alternativpräparate.

Mehrere Schachteln mit bunten Medikamenten

ORF.at/Zita Klimek

Bachinger spricht deswegen auch nicht mehr nur von Lieferproblemen, sondern bereits von Versorgungsengpässen. Der Patientenanwalt nennt als Beispiel Immunsuppressiva – Arzneimittel, welche die Funktion des Immunsystems vermindern und bei der Behandlung von beispielsweise Autoimmunerkrankungen oder nach einer Organtransplantation zum Einsatz kommen.

„Ein bestimmtes Medikament war einige Wochen nicht verfügbar. Und dann musste man Rückkäufe aus Italien tätigen, um die Versorgungssituation in Österreich wieder halbwegs in den Griff zu bekommen. Das sind Versorgungsengpässe, die direkte Auswirkungen auf Leben und Gesundheit von Patienten haben.“ Für Menschen, die ohnehin schon mit einer chronischen Erkrankung kämpfen, bedeute es eine große Belastung, wenn ihr Arzneimittel, das sie seit Jahren nehmen und von dem sie wissen, dass sie es gut vertragen, plötzlich nicht mehr vorhanden ist.

Pharmaindustrie errechnet Medikamentenbedarf

Wer entscheidet eigentlich darüber, von welchen Medikamenten es wie viele in Österreich braucht? Diese Einschätzung obliegt der Pharmaindustrie. „Es gibt keine einfache Formel, nach der man berechnen kann, wie hoch der Bedarf für die österreichische Bevölkerung ist. Das basiert auf Erfahrungswerten“, erläutert Wirthumer-Hoche.

Laut Arzneimittelgesetz müssen Pharmaindustrie und Großhandel eine ausreichende Versorgung in Österreich sicherstellen. Gleichzeitig gibt es aber keine Lieferverpflichtung. Für entsprechende Medikamentenengpässe kann also juristisch niemand zur Verantwortung gezogen werden. „Das ist rechtlich sehr schwierig. Weil jeder in diesem System hat sozusagen seinen Teil gemacht – trotzdem kommt man nicht dazu, dass der Patient dann möglicherweise sein lebensnotwendiges Medikament bekommt. Die Pharmaunternehmen sind keine staatlichen Betriebe, die verpflichtet wären, den österreichischen Markt mit irgendetwas zu versorgen“, resümiert Patientenanwalt Bachinger.

Grundsätzlich gibt es in der Lieferkette von Medikamenten drei Hauptprotagonisten: erstens die Pharmaunternehmen, die die Medikamente produzieren oder produzieren lassen. Danach treten die Großhändler auf den Plan – sie liefern die Präparate an die Apotheken. Dort wandern sie schließlich über den Ladentisch zur Patientin oder zum Patienten.

Gründe: Produktionsländer, Monopole, Parallelhandel

Wirthumer-Hoche nennt drei Hauptgründe für Lieferengpässe. Da sei zunächst das Problem der ausgelagerten Produktion. Die Medikamentenwirkstoffe werden aus Kostengründen zunehmend in Billiglohnländern wie China und Indien hergestellt. Dort hat man teils mit Qualitätsmängeln zu kämpfen. Nur beim geringsten Verdacht muss die Produktion gestoppt werden, so die AGES-Expertin. Zusätzlich ist das Risiko von Lieferkomplikationen auf dem langen Transportweg von Asien nach Europa größer. Beides führt zu vermehrten Ausfällen.

Als zweite Ursache identifiziert Wirthumer-Hoche den Zusammenschluss von Pharmaunternehmen. „Gleichzeitig bereinigen sie ihre Produktpalette. Es werden mit einem Wirkstoff nicht mehr zwei unterschiedliche Präparate hergestellt, sondern nur mehr eines. Das heißt, wir haben eine Monopolisierung.“ Immer mehr Medikamente werden weltweit von immer weniger Pharmaunternehmen produziert. Damit ist es der Branche möglich, großen Druck auf Staaten auszuüben. Dieser Entwicklung hätte man zu einem früheren Zeitpunkt auf politischer Ebene entgegenwirken können.

Oft wird auch nur mehr an einem einzigen Ort produziert. Fällt dort der Betrieb aus, steht der ganze Weltmarkt ohne entsprechendes Medikament da. Da hilft dann auch kein Ersatzpräparat – denn dieses muss ebenfalls den entsprechenden Wirkstoff enthalten.

Jemand füllt ein Rezept aus

ORF

„Und dann gibt es noch den Parallelhandel, also Parallelimporte und Parallelexporte. Der freie Warenverkehr in der EU gestattet es, dass Produkte aus Ländern mit niedrigen Preisen in Länder mit höheren Preisen gebracht werden – Stichwort Binnenmarkt.“ Es existiert zwar ein gewisser EU-Richtwert, aber jedes europäische Land verhandelt mit den Pharmaunternehmen eigene Medikamentenpreise aus.

Und hier kommt nun ein vierter Protagonist ins Spiel: Arzneimittelimporteure. Sie kaufen die Ware günstig in gewissen Ländern ein, um sie dann in Staaten mit höheren Preisen zu exportieren. „Wir haben zum Beispiel in Bulgarien das Phänomen, dass der Markt für onkologische Produkte fast leergefegt ist, weil man die dort einfach sehr günstig einkaufen und dann in viele Länder mit höheren Preisen exportieren kann“, schildert Pharmig-Generalsekretär Herzog.

Arzneimittelhandel ist ein großes Geschäft

Österreich ist entgegen gängiger Behauptungen kein Medikamenten-Niedrigpreisland. Die ausgabenstärksten Präparate kosten hierzulande sogar etwas mehr als im EU-Durchschnitt, so der Dachverband der Sozialversicherung. Einige Arzneimittel sind in Österreich aber auch günstiger, manche liegen sogar unter der Rezeptgebühr. Genau diese transportieren die Arzneimittelimporteure zunehmend in andere Länder – und sorgen damit ebenso für Lieferengpässe.

Die pharmazeutische Industrie kann sich hier aber auch nicht ganz aus der Verantwortung stehlen, wirft Sabine Vogler ein. Sie leitet die Abteilung Pharmaökonomie der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) – ein staatliches Forschungs- und Planungsinstitut mit Fokus auf dem Gesundheitssektor. Eine GÖG-Studie zeigt: Pharmaunternehmen bieten ihre neuen Medikamente zuerst in den Ländern mit den höchsten Preisen an.

„In klassischen Niedrigpreisländern in Osteuropa, aber auch in Portugal und Spanien werden Produkte erst ein, zwei, manchmal drei Jahre später auf den Markt gebracht. Also da kann man wirklich von einer Unternehmensstrategie sprechen. Neben der Problematik der Lieferengpässe, haben diese Staaten also auch noch damit zu kämpfen“, sagt Vogler. Dieses Verhalten kann man der Pharmabranche nur bedingt vorhalten – schließlich handelt es sich um gewinnorientierte Privatunternehmen. Will man Verbesserungen, müssen staatliche Behörden klare Regeln formulieren.

Medikamente und Rezepte

APA/HELMUT FOHRINGER

Lösungsvorschläge: Schärfere Gesetze?

Sollten etwa Lieferengpässe ein juristisches Nachspiel haben? „Das ist in einer freien Marktwirtschaft sehr schwierig, weil solche Maßnahmen können dann auch nach hinten losgehen“, gibt der Patientenanwalt Gerald Bachinger zu bedenken. „Pharmaunternehmen könnten dann so darauf reagieren, dass sie sich von dem Markt zurückziehen und sagen: Ich bin auf Österreich überhaupt nicht angewiesen, ihr könnt euch eure Regelungen so machen, wie ihr glaubt, wir beliefern euch einfach nicht mehr.“

Österreich alleine sei zu klein. Auf EU-Ebene könnte aber sehr wohl Druck ausgeübt werden, ergänzt der Patientenanwalt. „Der europäische Markt ist schon ein wichtiger. Hier wäre es möglich, strengere Regeln zu erlassen, etwa dass Pharmaunternehmen auch gewisse Lieferverpflichtungen haben, wenn sie im EU-Bereich weiter vertreten sein wollen.“

Die Pharmig hingegen spricht von einer nötigen Reindustrialisierung Europas. Die EU sowie die einzelnen Staaten müssten Anreize setzen, um die Pharmafirmen aus Asien zurückzulocken.

Audio - Pharmig-Generalsekretär Alexander Herzog formuliert wirtschaftliche Forderungen an die EU sowie einzelne Staaten:

Doch die Pharmabranche ist nur ein Player in der komplexen Welt der Medikamentenversorgung. Der Transport obliegt den Großhändlern, die Bestellung den Apotheken. Hinzu kommt noch das Problem des Parallelexports.

Genau hier setzt ein aktueller österreichischer Verordnungsentwurf an. Ausgearbeitet hat ihn eine Taskforce, in der alle Beteiligten vertreten waren – sprich u. a. die AGES, die Pharmig, die Großhändler, die Apothekerkammer sowie die Patientenanwälte. Die Taskforce bekennt sich zu einem Parallelexportverbot für von Engpässen betroffenen Medikamenten.

Als weiteren Lösungsvorschlag fordert sie ein zentrales Register, in dem alle Lieferschwierigkeiten aufscheinen müssen. Der Entwurf liegt derzeit bei der EU-Kommission. Sie muss nun klären, ob er mit den Regeln des freien Binnenmarktes vereinbar ist. Eine Entscheidung wird um den 20. Jänner erwartet.

Daphne Hruby, Ö1-Wissenschaft

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