Der Stammbaum der Gebärdensprachen

Längst ist klar, dass Gebärdensprachen vollwertige Sprachen sind. Dennoch mussten sie lang um Anerkennung kämpfen. In Österreich war es vor 15 Jahren so weit. Dabei haben sie besonders hierzulande eine lange Tradition, wie eine neue Studie zeigt.

Vermutlich sind Gebärdensprachen so alt wie gesprochene Sprachen. Womöglich sind letztere sogar aus Gesten entstanden – das vermutet zumindest eine Theorie zum Sprachursprung. Jedenfalls gibt es schon aus der Antike Berichte, wonach sich gehörlose Menschen mittels Zeichen und Gebärden verständigt haben. Das Bedürfnis nach Kommunikation kann bei Betroffenen auch heute noch dazu führen, dass sich wie aus dem Nichts eine neue Sprache aus Gesten und Zeichen entwickelt, wie etwa ein Beispiel in Nicaragua zeigt.

Gebärdendolmetscherin im österreichischen Nationalrat

HERBERT PFARRHOFER/APA

Dolmetscherin für Gebärdensprache im österreichischen Nationalrat

Schwierig zu untersuchen

Heute gibt es weltweit um die 200 Gebärdensprachen, die recht unterschiedlich sind; manche können einander so gut wie gar nicht verstehen. Anders als bei gesprochenen Sprachen weiß man bis heute recht wenig über die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Systemen und ihre Herkunft – also wie die vielen Varianten entstanden sind und wie sie zusammenhängen. Das liegt nicht nur an der historischen Außenseiterposition. Es ist einfach viel schwieriger, Gebärden systematisch zu untersuchen, weil es wenige historische Daten gibt.

Die ersten überlieferten Belege stammen aus dem 16. Jahrhundert in Spanien. Damals unterrichteten spanische Mönche gehörlose Kinder von Adeligen in Gebärdensprache. Dafür benützten sie ein sogenanntes Fingeralphabet, das von schweigenden Mönchen ebenfalls in Spanien entwickelt worden war. Eine bestimmte Fingerstellung entspricht dabei einem Buchstaben. Gehörlose verwenden das System zum Buchstabieren, etwa für Eigennamen oder um gesprochene Sprache in Gebärdensprache wiederzugeben.

Vergleich von Fingeralphabeten

Verschiedene solche Fingeralphabete waren auch die Basis einer kürzlich erschienenen Studie, die sich den Verwandtschaftsverhältnissen von Gebärdensprachen widmet. Man habe sich vor allem aus pragmatischen Gründen für das Buchstabiersystem entschieden, wie Koautor Johann-Mattis List vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte gegenüber science.ORF.at erklärt. Normalerweise untersuche man die Verwandtschaft von Sprachen anhand des Basisvokabular, das sind Wörter wie „Hand“, „Stein“ oder „Fuß“. Bei Gebärdensprache ist das viel schwieriger, weil es keine einheitliche Schrift, sondern verschiedene Notationssysteme gibt.

Die Studie

”Evolutionary dynamics in thedispersal of sign languages”, Royal Society Open Science, 15.1.2020

Die meisten Daten – zeitgenössische wie historische - hat man eben bei Fingeralphabeten. Laut List hat die Abstammungsanalyse viel besser funktioniert, als die Forscher zu Beginn befürchtet hatten. Es hätte sein können, dass es vielmehr zufällige Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen gibt – das wäre etwa dann der Fall, wenn die Fingeralphabete sich sehr stark am Aussehen von Buchstaben orientieren würden, und z.B. alle einen Fingerkreis für ein „o“ verwenden. „Das ist wie in der Biologie: Wenn alles unabhängig voneinander entstanden ist, gibt es keine gemeinsame Evolution“, so der Linguist. Das war aber nicht der Fall.

Große und kleine Sprachgruppen

Insgesamt hat das Team die Alphabete von 40 zeitgenössischen und 36 historischen Gebärdensprachen systematisch nach Ähnlichkeiten und Unterschieden durchsucht. „Ein gemeinsamer Ursprung von all diesen Sprachen ist sehr unwahrscheinlich“, meint List. Aber man habe die wichtigsten Abstammungslinien identifiziert. Drei große Gruppen, die jeweils einen gemeinsamen Ursprung haben, sind laut der Studie eine österreichische, eine britische und eine französische. „Aus Österreich gibt es eben schon eine rechte frühe Dokumentation, aus 1786“, so List. Weiters wurde drei kleinere Gruppen ausgemacht, eine russische, eine spanische und eine schwedische.

Grafik zur Verbreitung der Gebärdensprachen von Europa in die Welt

Justin Power

Laut den Autoren liefert die Untersuchung neue Belege für bereits bekannte Verbreitungsmuster. So hat sich etwa die historische Bedeutung und der Einfluss der französischen Gehörlosenerziehung bestätigt. In Paris wurde bereits 1770 die erste Gehörlosenschule der Welt eröffnet. Die dort verwendete Sprache wurde z.B. auch die Grundlage der amerikanischen Gebärdensprachen. Diese historischen Kenntnisse wurden durch die neue Studie erstmals anhand sprachlicher Merkmale überprüft, betont List: „Das ist nun weitaus weniger spekulativ.“

Es gab aber auch ganz neue und überraschende Ergebnisse: So ging man etwa bisher nicht davon aus, dass sich die Sprachen der österreichischen, französischen und spanischen Gruppe unabhängig von spanischen Wurzeln entwickelt hat. Außerdem wusste man nichts von einer dänischen Untergruppe innerhalb der österreichischen Abstammungslinie. Auch habe der russische Familienzweig ziemlich sicher österreichische Ursprünge.

Österreichische Vorfahren

Die meisten Fingeralphabete aus der österreichischen Gruppe werden mittlerweile nicht mehr verwendet, abgesehen von einem Abkömmling in Island. Das Buchstabiersystem, das in Österreich heute genutzt wird, basiert auf dem internationalen Fingeralphabet, das seine Wurzeln wiederum in der französischen Gruppe hat. „Nur weil heute ein anderes Fingeralphabet verwendet wird, bedeutet das nicht automatisch, dass es in der österreichischen Gebärdensprache seit dem 18. Jahrhundert keinerlei Kontinuität gibt“, erklärt Hauptautor Justin Power von der University of Texas gegenüber science.ORF.at.

Fingeralphabet und Gebärdensprache selbst könnten sich unabhängig voneinander entwickelt haben. Die Studie selbst lasse dazu jedoch keine definitiven Aussagen zu. „Was das Basisvokabular der österreichischen Gebärdensprache betrifft, gibt es wahrscheinlich einen engeren Zusammenhang bzw. Ähnlichkeiten zwischen den frühen Phasen und heute“, wie der Gebärdensprachenexperte aufgrund seiner Kenntnisse der österreichischen Variante vermutet.

Vergleich mit gesprochener Sprache

Kann man die erstellten Abstammungslinien überhaupt vergleichen mit der Evolution von gesprochenen Sprachen und ihrer Einteilung in Familien und Untergruppen? Auf der einen Seite gebe es schon entscheidende Unterschiede, erklärt Johann-Mattis List: „Bei Gebärdensprache hat man die Möglichkeit zur totalen Neuschöpfung.“

Bei gesprochenen Sprachen werde hingegen immer an Traditionen und existierende Sprachen angeknüpft, selbst wenn eine neue Sprache entsteht. Abgesehen davon könne man - sobald eine Gebärdensprache funktioniert und es eine Sprechergemeinschaft gibt, die groß genug ist - sehen, dass sich die Evolution wie bei allen Sprachen nach ähnlichen Prinzipien ausrichtet.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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