Die Schoah begann nicht in Auschwitz

Die Vernichtung des europäischen Judentums durch das NS-Regime wird häufig mit Orten wie Auschwitz, Treblinka und Maly Trostinez in Verbindung gebracht. Doch die Schoah begann inmitten der Städte und unter den Augen der Bürger.

An die vier Sammellager für Juden vor der Deportation in der Wiener Leopoldstadt erinnert jetzt das Buch „Letzte Orte“.

Cover des Buchs "Die Wiener Sammellager und die Deportationen 1941/42"

Mandelbaum Verlag

Letzte Orte. Die Wiener Sammellager und die Deportationen 1941/42, Mandelbaum Verlag, 20 Euro, 264 Seiten

„Die Schoah ist nicht Auschwitz allein, sie begann schon früher. (...) Die Schoah ist keine Frage der Schuld, sie ist eine Frage der Verantwortung“, sagte Mittwochabend Benjamin Nägele, Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), bei der Vorstellung des Buches mit dem Untertitel „Die Wiener Sammellager und die Deportationen 1941/42“ von Dieter Hecht, Michaela Raggam-Blesch und Heidemarie Uhl im Leopoldstädter Bezirksmuseum.

Aus Wien in den Tod

Es geht um lange vergessene Adressen des Grauens in dem Wiener Bezirk: Kleine Sperlgasse 2a, Castellezgasse 35 sowie Malzgasse 7 und 16 in der Leopoldstadt. Aus den dort befindlichen Schulen bzw. Heimen hatten die Nazi-Schergen Sammellager als letzte Station vor der Deportation der dafür bestimmten jüdischen Bürger gemacht. Der Großteil der mehr als 66.000 Schoah-Opfer wurde von diesen vier Sammellagern aus in den Tod geschickt. Dokumentiert ist das für mehr als 45.000 Menschen in 45 Transporten.

„Das sind Orte des Schreckens, die bisher im kollektiven Bewusstsein praktisch nicht präsent waren“, sagte Uhl. Der Deportation war zumeist zunächst die Vertreibung der Menschen jüdischer Abstammung aus ihren Wohnungen quer durch Wien vorausgegangen. „Gerade der 2. Bezirk war zentral, dort waren die meisten Sammelwohnungen in ‚Judenhäusern‘.“

Grässlich effizientes System

Für Nazi-Deutschland spielte Wien zeitlich und organisatorisch eine Vorreiterrolle bei den Deportationen, die hier schon im Frühjahr 1941 begannen. An der Spitze stand SS-Mann Alois Brunner mit der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“. Darunter wurde ein grässlich effizientes System etabliert, wie das Buch dokumentiert, für das als Ausgangspunkt eine zunächst in der Krypta am Heldenplatz und jetzt im Leopoldstädter Amtshaus gezeigte Ausstellung diente.

Die einzigen Fotos aus einem Sammellager zeigen den gefürchteten „Deportationsexperten“ Josef Weiszl. Er wird 1949 in Paris zu lebenslanger Haft verurteilt, erhält später in Wien Heimkehrerfürsorge und stirbt 1984.

Wiener Stadt- und Landesarchiv, LG Wien, Vg 8c Vr 871/55

Fotos aus einem Sammellager

Zunächst gab es noch das „Einberufen“. Aus den Mitgliedslisten der IKG wurden Register von Personen erstellt, die nach Polen verschickt werden sollten - und per Postkarte „eingeladen“. Die nächste Stufe war das „Ausheben“: Rund um die Uhr konnte in Wohnungen eingedrungen werden, es konnten sogar Straßen abgesperrt werden, um potenzieller Deportationsopfer habhaft zu werden. Dann ging es - zumeist nur noch für wenige Tage - in eines der Sammellager.

Unter den Augen der Bevölkerung

„Die Sammellager waren hermetisch abgeschlossen. Das ist unter den Augen der Wiener Bevölkerung geschehen“, sagte Mitautorin Uhl. Nur Handgepäck durfte in den elenden Massenquartieren behalten werden. Es sollten dort immer genug für die Deportation Vorgesehene vorhanden sein, um jeweils einen Zug mit 1.000 Insassen zu füllen. Dann kam das regelmäßige „Kommissionieren“ der Inhaftierten: In dem von Kriegsverbrecher Anton Brunner etablierten „Fließbandsystem“ wurden die Menschen ihrer letzten Habe beraubt, das Vermögen per Sondervollmacht an die Zentralstelle überschrieben. Statt eines Ausweises hatten die Betroffenen schließlich nur noch ihre „Kommissionsnummer“ - fertig für den Abtransport.

Nur Personen, die durch eine aufrechte Mischehe geschützt waren oder Kinder aus Mischehen konnten teilweise noch der Deportation entgehen. Sonst kamen die „Kommissionierten“ binnen kürzester Zeit per Transport auf offenen Lastwägen zumeist zum Bahnhof Aspang, von wo die Transporte von der Vorhölle in die Hölle abgingen - ebenfalls in aller Öffentlichkeit. Davon zeugt auch das erste noch existierende Foto von einer Deportation auf dem Wiener Bahnhof, das nach Jahrzehnten in Berlin gefunden wurde und nun in dem Buch abgedruckt ist.

science.ORF.at/APA

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