Die objektive und die subjektive Bedrohung

Das Coronavirus 2019-nCoV aus China dominiert die Schlagzeilen. Doch ist die Aufmerksamkeit berechtigt? Ängste wie vor der aktuellen Epidemie beruhen nicht auf nüchternen Fallzahlen, sagt ein Sozialmediziner.

China stellt Millionen Menschen unter Quarantäne, Fluglinien stellen ihren Verkehr ein und überall Bilder von Menschen mit Schutzmasken: Was an Hollywood-Filme erinnert, ist bei der aktuellen Epidemie Realität. So wie bei den Krankheitswellen der verwandten Viren SARS im Jahr 2002/2003 und MERS 2012 ist die faktische Gefahr nach aktuellem Wissensstand auch bei 2019-nCoV aber überschaubar. „Rein quantitativ ist auch das neue Coronavirus bis jetzt keine große Sache“, sagt der Sozialmediziner Michael Kunze gegenüber science.ORF.at. Sein Vergleich: „An SARS sind rund 800 Patienten weltweit gestorben, alleine in Österreich sterben jedes Jahr 3.000 Menschen an Lungenkrebs.“

Büroangestellte in Manila: Auch auf den Philippinen ist am 30.1. ein Krankheitsfall gemeldet worden.

APA/AFP/Ted ALJIBE

Büroangestellte in Manila: Auch auf den Philippinen ist am 30.1. ein Krankheitsfall gemeldet worden

Doch bei der Aufmerksamkeit, die das neue Coronavirus bekommt, geht es nicht nur um die objektive Zahl von Erkrankten und Todesfällen. Aus der Sozialmedizin ist bekannt, wie wichtig auch subjektive Bedrohungsgefühle sind. „Wir bekommen laufend Anrufe von besorgten Bürgern und Bürgerinnen, die wissen wollen, ob sie jetzt nach China fliegen sollen oder nicht“, erzählt Kunze.

Der Medizinhistoriker Laurent-Henri Vignaud weist auf die historische Dimension dieser Ängste hin. „Was einem hier am meisten in den Sinn kommt, ist die Pest“, die im Mittelalter Europas Bevölkerung dezimierte.

Der Börsenindex in Hongkong ist infolge der Epidemie zuletzt deutlich gesunken

APA/AFP/Dale de la Rey

Der Börsenindex in Hongkong ist infolge der Epidemie zuletzt deutlich gesunken

Neu: Verkehr und Medien

Das neue Coronavirus passt außerdem zu der geschichtswissenschaftlichen Theorie, dass Epidemien die jeweiligen Lebensbedingungen einer Epoche widerspiegeln – aktuell jene der Globalisierung. Mit ihr hat sich das Verkehrswesen revolutioniert und damit die Geschwindigkeit.

Im Vergleich zu historischen Epidemien verbreiten sich ansteckende Krankheiten heute viel schneller – weshalb nun viele Fluglinien ihr Flüge nach China eingestellt oder verringert haben. „Als früher mit Schiff und Eisenbahn gereist wurden, erkrankten und starben viele Menschen noch während der Reise“, sagt Sozialmediziner Kunze. Eingeschleppte Krankheiten seien deshalb in der Regel nicht mehr so virulent gewesen.

Historisch neu ist auch die Medialisierung. „Epidemien wie das Coronavirus 2019-nCoV eignen sich auch zur Panikmache – obwohl die in Österreich und Umgebung überhaupt nicht angebracht ist“, so Kunze. Wer heute von „Todesvirus“ oder Ähnlichem schreibe, betreibe ein gefährliches Spiel. „Was soll uns schon passieren, wenn wir keinen Kontakt haben zu Leuten in einem chinesischen Epidemiegebiet?“

Fabrik in Bangkok: Während hier üblicherweise zehn Millionen Schutzmasken pro Monat produziert werden, sind die Arbeitsstunden nun aufgrund der Nachfrage erhöht worden

APA/AFP/Jonathan KLEIN

Fabrik in Bangkok: Während hier üblicherweise zehn Millionen Schutzmasken pro Monat produziert werden, sind die Arbeitsstunden nun aufgrund der Nachfrage erhöht worden

Ängste ernst nehmen

Die Ängste seien dennoch ernst zu nehmen. „Es gibt ein angeborenes Angstgefühl bei Krankheitsausbrüchen, im Wesentlichen, weil es sich um einen für das menschliche Auge unsichtbaren Feind handelt“, sagt der Seuchenexperte Adam Kamradt-Scott von der University of Sydney. Schließlich könne niemand wissen, ob er infiziert ist, „bis er Symptome entwickelt, und dann kann es zu spät sein“.

Medien spielen im Umgang mit dem Virus eine tragende Rolle. „Sie tragen entscheidende Verantwortung, dass nur genaue, sachliche Informationen berichtet werden“, betonte Kamradt-Scott. Auf „Spekulationen und Übertreibungen bei dieser Art von Ereignissen“ sollten sie verzichten. Im besten Fall können sie aber sogar Teil der Lösung sein. „Denn wenn die Leute darauf hingewiesen werden, nach einem China-Aufenthalt zu Hause zu bleiben und eine Hotline anzurufen, dann ist das positiv“, so Michael Kunze.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, Material: dpa

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