Risse im Fundament

Das Universum dehnt sich immer schneller aus. Und schuld daran ist die Dunkle Energie. Das hätte bis vor Kurzem kaum jemand angezweifelt – doch jetzt rütteln Forscher am Fundament der Kosmologie: Was ist davon zu halten?

Es gibt Arbeiten, die das wissenschaftliche Weltbild festigen, und solche, die es unterminieren. Eine aktuelle Studie, erschienen in der Jänner-Ausgabe des „Astrophysical Journal“, zählt eindeutig zur zweiten Kategorie. Darin behaupten französische und südkoreanische Wissenschaftler, dass die Dunkle Energie schlichtweg nicht existiert. Das ist keine Kleinigkeit, schließlich soll diese Dunkle Energieform laut Theorie zwei Drittel der Gesamtenergie des Universums in sich versammeln und außerdem dafür sorgen, dass sich der Weltraum mit immer größerer Geschwindigkeit ausdehnt. Das schließen Astronomen aus dem Vergleich von fernem und nahem Sternenlicht – hier könnte sich ein Fehler eingeschlichen haben, schreibt Young-Wook Lee von der Yonsei-Universität, Seoul, in seiner Studie.

Das Argument lautet: Wenn man mit bestimmten Sternenexplosionen („Standardkerzen“) Entfernungen im Weltraum bestimmt, dann basiert die Methode auf der Annahme, dass sich alle Sterne gleich verhalten, unabhängig davon, aus welchem kosmischen Zeitalter sie stammen. Lee und sein Team haben nun Hinweise dafür gefunden, dass die Standardkerzen gar kein geeigneter Maßstab sind, weil sie gewissen Alterungserscheinungen unterliegen. Sollte sich das bestätigen, wären die bisherigen Distanzmessungen im Kosmos fehlerhaft, und somit auch die ermittelten Werte der kosmischen Expansion.

Teleskopaufnahme einer Supernova (Sternenexplosion)

NASA/CXC/SAO/D.Patnaude/DSS

Distanzmessungen im All: Sind Sternenexplosionen variabler als gedacht?

Beschleunigt sich die Ausdehnung des Weltraums also doch nicht? Und benötigen die Astrophysiker womöglich gar keine Dunkle Energie? Das jedenfalls behauptet Lee: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass es sich bei der Dunklen Energie um einen Artefakt handeln könnte, der auf einer wackeligen oder falschen Annahme beruht.“ In der Fachgemeinde hat er damit zwar Interesse geweckt, überzeugen konnte er bis dato nicht. Von einigen musste er sogar deutliche Kritik einstecken. Etwa von Marc Kamionkowski: Der theoretische Physiker von der Johns Hopkins University erklärt in einem Interview, warum er immer noch an die Existenz der Dunklen Energie glaubt – und wo er selbst ungelöste Probleme sieht.

science.ORF.at: Herr Kamionkowski, was war Ihre erste Reaktion, als Sie Lees Arbeit gelesen haben?

Marc Kamionkowski: Ich hatte meine Zweifel. Supernovae, also Sternenexplosionen, werden seit so langer Zeit untersucht, es ist für mich schwer vorstellbar, dass diese Messungen alle falsch sein sollen.

Wie sehen das Ihre Fachkollegen?

Kamionkowski: Ich habe zum Beispiel mit Adam Riess über diese Arbeit gesprochen. Er hat 2011 den Nobelpreis für die Entdeckung der Dunklen Energie erhalten. Adam hat mich davon überzeugt, dass die Arbeit keine solide Basis hat.

Marc Kamionkowski, theoretischer Physiker der Johns Hopkins University

Johns Hopkins University

Marc Kamionkowski forscht an der Johns Hopkins University in den Fächern Kosmologie und Teilchenphysik.

Warum?

Kamionkowski: Für Distanzmessungen im Kosmos verwenden wir Tausende Sternenexplosionen. Lee und sein Team haben sich bloß eine kleine Zahl solcher Supernovae angesehen – und dann ihre Ergebnisse extrapoliert. Adam hat Lees Daten kürzlich analysiert und mit den Daten der restlichen Supernovae verglichen. Tut man das, gibt es keinen Grund, an der Verlässlichkeit der Standardkerzen zu zweifeln. Ich glaube, Lees Arbeit ist einfach schlechte Wissenschaft. Davon abgesehen beruhen unsere Modelle auch auf vielen anderen Quellen, die kosmische Hintergrundstrahlung, Galaxiencluster und viele andere Messungen zeigen uns: Das Universum dehnt sich immer schneller aus.

Die Revolution ist abgesagt?

Kamionkowski: So sieht es aus, sorry.

War es riskant, sich so aus dem Fenster zu lehnen?

Kamionkowski: Ich habe vorhin den Begriff „schlechte Wissenschaft“ verwendet, das möchte ich zurücknehmen. Sagen wir so: Es war eine Überinterpretation der Ergebnisse.

Zum Grundsätzlichen: Was spricht für die Existenz der Dunklen Energie? Und was kann man sich darunter vorstellen?

Kamionkowski: Wenn ich einen Ball in die Luft werfe, dann kommt er bekanntlich wieder zurück. Warum? Weil er von der Schwerkraft der Erde angezogen wird. Angenommen, ich hätte einen sehr sehr kräftigen Arm und könnte den Ball auf elf Kilometer pro Sekunde beschleunigen, dann würde er dem Gravitationsfeld der Erde entkommen. Aber auch in diesem Fall würde sein Tempo immer weiter abnehmen, weil die Gravitation eine anziehende Kraft ausübt. Das gilt für alle Objekte, die sich im Weltraum voneinander wegbewegen: Die Geschwindigkeit wird mit der Zeit geringer. Wenn wir beobachten, wie sich Galaxien voneinander wegbewegen, stellen wir aber das Gegenteil fest: Die Geschwindigkeit nimmt immer weiter zu! Irgendetwas im Universum muss für diese Beschleunigung verantwortlich sein. Das ist die Dunkle Energie.

Woraus besteht sie?

Kamionkowski: Wir wissen es nicht. Im Grunde ist der Begriff „Dunkle Energie“ ein Platzhalter für etwas, das existieren muss, das wir aber noch nicht ausreichend verstehen. Die einfachste Möglichkeit wäre, dass es sich bei der Dunklen Energie um die „kosmologische Konstante“ von Albert Einstein handelt, nur mit dem Unterschied, dass Einstein damals den Wert der Konstante auf Null gesetzt hat, um das Universum statisch zu machen – was man aus heutiger Sicht nicht mehr tun würde. Dann gibt es eine Idee namens „Quintessenz“: Sie besagt im Wesentlichen, dass es sich bei der Dunklen Energie um eine dynamische Größe handelt. Das heißt, ihr Wert ändert sich mit der Zeit und wird immer geringer. Wenn das zutrifft, dann wird die beschleunigte Expansion des Universums, die wir momentan beobachten, irgendwann ein Ende haben.

Stern "U Antliae" im Kosmos

ESO, Digitized Sky Survey 2; Davide De Martin

Die Expansionsrate des Universums bereitet Astronomen Kopfzerbrechen

Die Rate der Expansion ist allerdings ungeklärt, die Messergebnisse sind widersprüchlich: Was ist das Problem?

Kamionkowski: Wir können die gegenwärtige Expansion des Universums auf unterschiedliche Arten bestimmen. Eine Möglichkeit ist, sich Schwankungen in der kosmischen Hintergrundstrahlung anzusehen. Eine andere ist die lokale Vermessung von Galaxiengeschwindigkeiten. Beide Methoden sind verlässlich, aber die Messwerte sind unterschiedlich. Im einen Fall liegt der Wert bei 67 (Kilometer pro Sekunde und Megapersec, Anm.) im anderen bei 73. Und der Widerspruch scheint auch nicht zu verschwinden, wir nennen dieses Problem „Hubble-Tension“.

Was folgt daraus?

Kamionkowski: Es wäre möglich, dass wir bei einer der beiden Methoden einen Fehler übersehen haben, sei es nun bei den Daten, den Messungen oder bei den Analysen. Denkbar wäre auch, dass beide Teams recht haben – und wir im Kosmos etwa Grundlegendes nicht verstanden haben.

Das wäre vermutlich die interessante Möglichkeit.

Kamionkowski: Das stimmt. Ich würde allerdings sagen, dass diese Variante noch nicht fix ist. Bisher haben einige kluge Leute versucht, Fehler zu finden. Dass das noch nicht gelungen ist, heißt noch nicht, dass es keinen Fehler gibt.

Angenommen, die Diskrepanz wäre real: Würde das bedeuten, dass die Evolution des Universums anders abgelaufen ist als bisher gedacht?

Kamionkowski: Genau. Dummerweise gibt es in der Theorie keine einfache Lösung für das Problem. Wären die Messwerte der beiden Methoden vertauscht, könnten wir unser kosmologisches Modell relativ leicht anpassen, leider ist das nicht so.

Eine mögliche Erklärung haben Sie vorgeschlagen – wie lautet Sie?

Kamionkowski: Mein ehemaliger Student Tanvi Karwal und ich haben vor drei Jahren vorgeschlagen, dass die Diskrepanz durch einen neuen Typus der Dunklen Energie erklärbar wäre: Diese Dunkle Energie hatte laut unserem Modell eine ungewöhnlich hohe Energiedichte, war aber nicht stabil. Etwa 500.000 Jahre nach dem Urknall müsste sie sich in Strahlung aufgelöst haben. Das war zunächst nur eine Hypothese. Ob unsere Berechnungen zur kosmischen Hintergrundstrahlung passen, wussten wir zum damaligen Zeitpunkt nicht, das haben wir mittlerweile in einer sehr sorgfältigen Analyse nachgeholt. Sie zeigt: Die Lösung funktioniert.

Wie sieht es mit konkreten Experimenten aus? Wird es möglich sein, mehr über die Dunkle Energie zu erfahren?

Kamionkowski: Ich bin optimistisch. Im Moment sind einige Experimente zu dieser Frage in Planung. Zum Beispiel das Weltraumteleskop Euclid der ESA, das Large Synoptic Survey Telescope der NASA oder das Subaru-Teleskop der japanischen Weltraumagentur. Diese Missionen sollten verschiedene Modelle der Dunklen Energie testen können.

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

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