Illegal von Österreich in die Tschechoslowakei

Flucht, Vertreibung, Rückschiebung: Was vor allem Juden und Jüdinnen nach dem „Anschluss“ 1938 an der österreichisch-tschechoslowakische Grenze erlebten, haben Historiker untersucht und auf Onlinekarten visualisiert.

Als Hedwig und Hugo Guttmann, ein jüdisches Ehepaar aus Wien, im Jänner 1939 in der Nähe von Budweis die Grenze zur Tschechoslowakei übertreten, haben sie vorerst Glück. Denn die Grenze ist seit dem sogenannten Anschluss im März 1938 für Flüchtlinge aus Österreich geschlossen. Gegenüber den Polizeibehörden in Prag geben die Guttmanns später an, mit dem Reisepass offiziell den Grenzposten passiert zu haben. Ob das stimmt und sie von einem Grenzbeamten gedeckt worden sind oder ob sie doch heimlich die grüne Grenze passiert haben, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen.

Die Geschichte der Guttmanns und vieler anderer Flüchtlinge konnte das tschechisch-österreichische Historiker-Duo Michal Frankl von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften und Wolfgang Schellenbacher vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) rekonstruieren, indem sie Dokumente aus österreichischen und tschechischen Archiven zusammentrugen. Ihre Forschungsergebnisse haben sie jetzt in der Online-Edition „BeGrenzte Flucht“ veröffentlicht. Ziel ist es, durch kartenbasierte Visualisierungen und abrufbare Dokumente weitere Forschung zu erleichtern.

Veranstaltungshinweis

Die Online-Edition „BeGrenzte Flucht“ wird am 7. Juni 2018 um 18:30 Uhr im DÖW präsentiert. Das Projekt entstand im Rahmen des Forschungskonsortiums European Holocaust Research Infrastructure und wurde vom Zukunftsfonds der Republik Österreich finanziert.

Vermutlich schafften es 5.000 bis 10.000 Österreicher, illegal in die Tschechoslowakei zu gelangen, die meisten von ihnen kamen über die Grenzabschnitte Richtung Znojmo und Bratislava. Genaue Zahlen gibt es nicht. „Wer illegal kommt, meldet sich nicht bei den Behörden. Wir wissen, dass Tausende von Menschen an der Grenze abgewiesen wurden. Wie viele von ihnen es nochmals versucht haben, können wir nicht sagen. An der Grenze wurden keine Protokolle geführt“, erklärt Michal Frankl.

Alle Orte, die in den untersuchten Dokumenten vorkommen

Frankl/Schellenbacher

Alle Orte, die in den untersuchten Dokumenten vorkommen

Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik

Fest stehe aber, dass die Tschechoslowakei 1938 eines der wichtigsten Fluchtländer für österreichische Jüdinnen und Juden war, sagt Wolfgang Schellenbacher. „Es gab oft familiäre oder geschäftliche Verbindungen in die Tschechoslowakei und eine lange grüne Grenze.“ Und die war erst 20 Jahre alt, ergänzt Frankl: „Für viele Menschen war es üblich, zwischen den beiden Ländern hin- und herzureisen.“ Die Tschechoslowakei war in den 1930er-Jahren zudem bekannt für ihre liberale Flüchtlingspolitik, sagt der Historiker: „Ab 1933 akzeptierte sie viele Flüchtlinge aus NS-Deutschland, ab 1934 aus Österreich.“

Nachvollziehbar ist daher, dass rund 300 großteils jüdische Österreicherinnen und Österreicher noch am Vorabend des „Anschlusses“ in den Zug nach Brünn stiegen, um zu fliehen. Als sie bei Břeclav von tschechischen Grenzbeamten zurückgeschickt wurden, war das ein Schock. „Für die Flüchtlinge kam die Schließung der Grenze überraschend, tatsächlich war sie aber Ergebnis einer längeren Entwicklung: Ihr ging eine antisemitische Debatte voraus, die bereits ab Mitte der 1930er-Jahre jüdische Flüchtlinge als unerwünschte Wirtschaftsmigranten stigmatisierte. Schon zwei Monate vor dem Anschluss wurde etwa die Grenze für jüdische Flüchtlinge aus Rumänien gesperrt.“

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 7.6., 13:55 Uhr.

Die tschechoslowakische Kursänderung von der liberalen zur restriktiven Flüchtlingspolitik entsprach dem europäischen Trend 1938, sagt Schellenbacher: „Spätestens ab April waren die meisten Länder schwer legal zu erreichen, vor allem für Jüdinnen und Juden. Auch die Schweiz schloss die Grenzen, Großbritannien führte eine Visumspflicht ein, Ungarn ließ kaum noch Flüchtlinge aus Österreich ins Land.“

Unsicheres Fluchtziel

Das tschechoslowakische Konsulat in Wien begann nun inoffizielle Visa auszustellen, sogenannte Empfehlungen. Diese wurden prinzipiell nicht an Juden vergeben, erklärt Frankl. Das Grenzgebiet wurde zu einem Fahndungsgebiet: Viele Jüdinnen und Juden wurden von der SA aktiv über die Grenze getrieben, sagt Schellenbacher: „Die meisten wurden dann von den tschechoslowakischen Grenzbeamten zurückgeschoben und landeten in einem Niemandsland. Oft ging das zwei- bis dreimal hin- und her. Mit Glück schaffte man es dann, in die Tschechoslowakei zu gelangen.“

Lange war man als Jüdin oder Jude in der Tschechoslowakei allerdings nicht sicher: Im Oktober 1938 marschierten die Nazis nach dem Münchner Abkommen im Sudentengebiet ein, im März 1939 besetzten sie Böhmen und Mähren und brachten die Slowakei unter ihren Einfluss. „Das Fluchtziel wurde schnell zu einem Land, aus dem man weiterfliehen musste“, sagt Schellenbacher. Das Ehepaar Guttmann wollte nach Shanghai weiterreisen, schaffte es aber nicht rechtzeitig, aus Prag wegzukommen. Die beiden wurden 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und von dort nach Auschwitz, wo sie noch im selben Jahr ermordet wurden.

Katharina Gruber, Ö1-Wissenschaft

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