Typologie des Störenfrieds
Die Typologie stammt von dem in St. Gallen lehrenden Philosophen Dieter Thomä. In seiner kürzlich erschienenen Studie „Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds“ beschreibt er die verschiedenen Verhaltensweisen des sozialen Rebellen.
Ein „kindischer Geist“
Den Störenfried – „ein kräftiger Kerl mit kindischem Geist“ – findet man zum ersten Mal bei dem englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679). Für ihn stellte der Störenfried eine zentrale Gestalt der politischen Philosophie der Neuzeit dar, weil er durch seine Renitenz die herrschende Gesellschaftsordnung in Frage stellte.
Hobbes argumentierte, dass eine gesellschaftliche Ordnung nur dann funktionieren kann, wenn sich das Individuum an die staatlich vorgegebenen Regeln hält, die ein reibungsloses Zusammenleben gewährleisten. Und dieses Zusammenleben sah Hobbes durch den Egoismus des Störenfrieds, der allein seine Weltsicht zum Maß aller Dinge macht, gefährdet. Dieter Thomä bezeichnet diesen Typus als „egozentrischen Störenfried“.
Jürgen Bauer
Biografie und Literaturhinweise
Dieter Thomä, geboren 1959, lehrte nach der Promotion 1989 in Paderborn, Rostock, New York, Berlin und Essen. Seit dem Jahr 2000 ist Thomä Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sozialphilosophie, Ethik, Kulturphilosophie, politische Philosophie, Phänomenologie. Seine Reflexionen kreisen um die sokratische Frage: „Wie zu leben sei“.
Literaturhinweise
Dieter Thomä: Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Suhrkamp Verlag
Paul Feyerabend: Zeitverschwendung, Suhrkamp Verlag
Thomas Hobbes: Vom Bürger. Vom Menschen, Felix Meiner Verlag
Erich Mühsam: Befreiung der Gesellschaft vom Staat, Karin Kramer Verlag
Erich Mühsam: Tagebücher. Hg. Chris Hirte und Conrad Piens. Verbrecher Verlag
Gerhard Senft (Hg): Essenz der Anarchie, Anarchia Versand
Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, Reclam Verlag
Senft, Gerhard (Hg.): Essenz der Anarchie.
Die Parlamentarismuskritik des libertären Sozialismus, Promedia Verlag
Typ 1: Egozentrischer Störenfried - Max Stirner
Ein markantes Beispiel für den philosophischen Störenfried ist Max Stirner (1806-1856). Er war das Enfant terrible seiner Zunft und wurde als „ein verkommener Gelehrter, als rigoroser Monomane und ein Ich-Verrückter“ bezeichnet. Grund dafür waren Ausführungen, wie sie in seinem Hauptwerk „Der Einzige und sein Eigentum“ zu finden sind.
Stirner, der die akademische Öffentlichkeit mied, setzte sich radikal für das konkrete Ich ein, das durch ideologische und religiöse Wertehierarchien versklavt wird. Er forderte, dieses „versklavte Ich“ durch einen radikalen Befreiungsakt die Ketten der Dogmatismen zu sprengen. Es soll sich gegen alles Bestehende richten, gegen den gesamten Apparat der Sozialisierung, der den Menschen von Kindheit an konditioniert.
Bisher propagierte Revolutionen, wie sie etwa in der Romantik erfolgten, haben sich laut Stirner immer nur gegen ein bestimmtes Bestehendes gerichtet. Es gehe nun um eine wahrhaft revolutionäre Aktion, in der das autonome Ich kreiert wird, das nach dem Grundsatz lebt: “Ich tue nur, was ich selber will.“
Grazia Borrini-Feyerabend
Typ 2: Exzentrischer Störenfried - Paul Feyerabend
Im Gegensatz zum egoistischen Störenfried, der genau weiß, was er will, existiert ein anderer Typus, der nicht genau weiß, was er will. Thomä nennt ihn den exzentrischen Störenfried, der keine fertige Persönlichkeit ist. Er weiß nur, dass er die Gesellschaftsordnung, so wie sie faktisch besteht, nicht erträgt. Der exzentrische Störenfried wendet sich gegen eine Mentalität, die darin besteht, die Routine des Alltagslebens zur höchsten Maxime zu erheben.
Ein solcher exzentrischer Störenfried war der anarchistische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend. Der radikale Kritiker der abendländischen Vernunft hatte den Ruf eines Querdenkers, der alle traditionellen wissenschaftlichen Kategorien in Frage stellte. Als zynischer Verächter des Wissenschaftsbetriebs spielte er mit größtem Vergnügen die Rolle des Hofnarren, um die überzogenen Ansprüche der akademischen Philosophie zu entlarven.
Ein Stich in den Hintern
Feyerabend inszenierte seine Rolle als exzentrischer Störenfried in London, Berkeley, Kassel, Berlin, und in Zürich. Die radikale Studentenbewegung der 68er-Jahre war für den antiautoritären Gelehrten eine Bestätigung seiner offenen Haltung gegenüber verschiedenen Traditionen. In seinen Vorlesungen wurden sowohl der Linksradikalismus von Daniel Cohn-Bendit als auch die Schriften von Mao Tse-tung diskutiert.
Aktivisten militanter Bewegungen sprachen über ihre politischen Ziele, vietnamesische Studenten diskutierten mit amerikanischen Wehrdienstverweigerern. Sein philosophischer Kollege Hans Sluga verglich Feyerabends Auftritte mit der „Tätigkeit einer Pferdefliege, die dem Pferd in den Hintern sticht, sodass das Pferd Sprünge macht.“
Grazia Borrini-Feyerabend
Typ 3: Sozial-rebellischer Störenfried - Erich Mühsam
In der Galerie der Störenfriede findet man noch den sozialen Rebellen, der die bestehende Gesellschaftsordnung zerstören möchte, um eine alternative Form des Zusammenlebens zu etablieren. Ein solcher Rebell war der deutsche Schriftsteller, Anarchist und politische Aktionist Erich Mühsam (1878-1934). Er bekämpfte das bestehende System des Kapitalismus, in dem Profitmaximierung und Konkurrenzkampf als oberste Werte propagiert wurden. Dagegen setzte sich Mühsam für eine neuartige Gesellschaftsform ein, die auf Solidarität, Tauschhandel und freier Sexualität beruht.
Ö1 Sendungshinweis
„Puer robustus. Ein philosophisches Porträt des Störenfrieds“: Eine Sendung von Nikolaus Halmer, Dimensionen, 9.1, 19.05 Uhr
Die Alternative zum kapitalistischen Gesellschaftsmodell, das sich auf einen autoritären Staat stützt, sah Mühsam im Anarchismus. Als Grundlage dieses Gesellschaftsmodells sollte der sogenannte Mutualismus fungieren, den der französische Anarchist Pierre-Joseph Proudhon propagiert hatte: ein gegenseitiger Austausch von Produkten und Arbeitsleistungen, die von Kleinproduzenten stammen. Dieser Austausch sollte den an der Profitmaximierung orientierten Wettbewerb des Kapitalismus ersetzen, der verhindert, dass die Menschen gemeinsam arbeiten und leben.
Internationale der Störenfriede auf dem Monte Verità
Das Modell solch eines alternativen Laboratoriums fand Mühsam auf dem Monte Verità in der Schweiz, wo sich ein breites Spektrum von Weltverbesserern, Vegetariern, Anthroposophen und Künstlern versammelte. Das Spektrum reichte von Anarchisten wie Michael Bakunin und Erich Mühsam über den Soziologen Max Weber und den Philosophen Ernst Bloch bis zu Künstlern wie Hermann Hesse, Marianne von Werefkin und Hugo Ball.
Der Monte Verità sollte nicht nur ein Ort für experimentelle Lebensenwürfe sein, sondern „allen, im Lebenstrubel zu Schaden gekommenen, unter der kapitalistischen Ausbeutung leidenden Existenzen ein Refugium anbieten“, wie die Mitbegründerin des Projekts Ida Hofmann schrieb.
Mühsam ging noch viel weiter: Er wünschte sich, „dass Ascona Zufluchtsort für entlassene oder entwichene Strafgefangene, für Verfolgte und Heimatlose, für Landstreicher, Huren und Künstler werden sollte“, also für all jene, die Karl Marx als „Lumpenproletariat“ bezeichnet hatte.
Ironie der Geschichte
Das Alternativprojekt Monte Verità - die Miniatur-Versuchsstätte einer den gesamten Menschen umfassende Revolution - war nur eine kurze Dauer beschieden. Wie zahlreiche andere Alternativprojekte, die Störenfriede initiierten, endete es in einem kapitalistischen Unternehmen. Heute besteht es aus sündteuren Villen und einem Kongresszentrum.
Harald Szeemann, der Kurator der Ausstellung „Monte Verità“ rekapitulierte die Geschichte des legendären sozialen Experiments folgendermaßen: „Zuerst kommen die Spinner und entdecken einen Ort, fangen seine Strahlungen auf, dann kommen die Künstler, die seine Schönheit bringen, dann die Bankiers, die Grundstückpreise steigen, und die Künstler und Spinner ziehen weiter.“
Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft
Links:
- Buchbesprechung: Dieter Thomä: Puer robustus
- Paul K. Feyerabend - Interview in Rom (YouTube)
- Literatur von Erich Mühsam