„Mischehefamilien“ im NS-Regime

Mehr als 200.000 Juden und Jüdinnen lebten 1938 in Österreich. Nur rund 6.000 von ihnen überlebten das NS-Regime in Wien: die meisten von ihnen in „Mischehen“. Wie sie ständig bedroht waren, beschreibt die Historikerin Michaela Raggam-Blesch in einem Gastbeitrag.

In den großen Transporten von Oktober 1941 bis Oktober 1942 wurden mehr als 45.000 Menschen vom Aspangbahnhof in die Ghettos und Todeslager deportiert. Dies galt bisher als Endpunkt jüdischen Lebens in Wien während der Shoah.

Porträtfoto der Historikerin Michaela Raggam-Blesch

Marianne Weiss

Über die Autorin

Die Historikerin Michaela Raggam-Blesch arbeitet am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte (IKT) der Akademie der Wissenschaften. Sie war Fellow am IWM.

Tatsächlich gelang es jedoch einer kleinen Gruppe innerhalb der als jüdisch definierten Bevölkerung, unter prekären Umständen bis Kriegsende in Wien zu verbleiben. Der Großteil davon lebte in „Mischehe“ mit einem nichtjüdischen Ehepartner oder zählte zu den als „Geltungsjuden“ bezeichneten Nachkommen aus „Mischehefamilien“. Auch Arik Brauer überlebte die NS-Zeit durch den Schutz nichtjüdischer Familienmitglieder in Wien.

Wer lebte Ende 1942 noch in Wien?

Ende Oktober 1942, nachdem der Großteil der jüdischen Bevölkerung bereits deportiert worden war, wurde die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) von den NS-Behörden aufgelöst. An ihre Stelle trat der „Ältestenrat der Juden in Wien“, der ab diesem Zeitpunkt nicht nur jüdische Gemeindemitglieder, sondern alle als Juden definierten Personen vertrat.

Laut einer vom „Ältestenrat“ für die NS-Behörden erstellten Statistik waren von den 7.989 Jüdinnen und Juden, die Ende 1942 noch in Wien lebten, 5.564 Personen durch einen nichtjüdischen Ehepartner geschützt. Der Rest waren Kinder aus „Mischehen“ sowie Personen, die durch eine Funktion im Rahmen des „Ältestenrats“ geschützt waren.

Dabei handelte es sich um Ärzte, Krankenschwestern, Bedienerinnen, Köchinnen, Pflegerinnen, Betreuungspersonal und Büroangestellte in den letzten verbliebenen jüdischen Institutionen (Spital, Altersheim, Kinderheim), die bis Kriegsende bestanden, da Jüdinnen und Juden aus „Mischehefamilien“ in nichtjüdischen Einrichtungen nicht betreut werden durften.

„Schule für christliche und konfessionslose Nicht-Arier“, 5., Grüngasse 14, im Juni 1942.. 1: Reihe sitzend (Mitte) Walter Eckstein, 3. Reihe 1.v.l. Arik Brauer.

Privatbesitz

„Schule für christliche und konfessionslose Nicht-Arier“, 5., Grüngasse 14, im Juni 1942 - kurz vor der Schließung der Schule aufgrund des Verbots jeglichen Unterrichts für Juden. 1: Reihe sitzend (Mitte) Walter Eckstein, 3. Reihe 1.v.l. Arik Brauer. Beide überlebten durch den Schutz ihrer als „arisch“ definierten Mütter.

Nürnberger Gesetze definierten, wer jüdisch ist

Ehen von Juden und Nichtjuden, die nach nationalsozialistischer Definition als „Mischehen“ bezeichnet wurden, waren dem NS-Regime ein Dorn im Auge. Mit den am 15. 9. 1935 erlassenen Nürnberger Gesetzen wurden solche Ehen verboten, bestehende „Mischehen“ jedoch letztendlich nicht angetastet, wenngleich vor allem nichtjüdische Frauen von den NS-Behörden immer wieder unter Druck gesetzt wurden, sich von ihren jüdischen Partnern zu trennen.

Ö1 Sendungshinweis

Betrifft Geschichte: Im Warteraum der Vernichtungslager. Die jüdischen Sammellager in der Wiener Leopoldstadt, 23.-27.1., 17:55 Uhr

Mit den Nürnberger Gesetzen wurden Personen mit einem jüdischen und einem nichtjüdischen Elternteil – je nach Religionszugehörigkeit – als „Mischlinge 1. Grades“ oder als „Geltungsjuden“ definiert. Jene Personen, die getauft oder konfessionslos waren, wurden als „Mischlinge“ definiert. Sie galten weder als „arisch“ noch als jüdisch und verkörperten damit einen Zwischenstatus, der sich auch auf die Identität der Betroffenen auswirkte.

Personen, die der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten, galten trotz ihrer „halbjüdischen“ Herkunft als jüdisch. Sie waren als „Geltungsjuden“ denselben diskriminierenden Bestimmungen wie die restliche jüdische Bevölkerung unterworfen. Die Tatsache, dass auf konfessionelle Kriterien zurückgegriffen werden musste, um rassenideologische Bestimmungen festmachen zu können, unterstreicht die Widersprüchlichkeiten der nationalsozialistischen Ideologie.

Nach dem „Anschluss“ wurden diese Gesetze in Österreich rückwirkend übernommen, wobei als Stichtag für die Religionszugehörigkeit der 15. 9. 1935 festgelegt wurde. Ein Austritt aus der IKG nach der nationalsozialistischen Machtübernahe blieb demnach für die rassenideologische Kategorisierung ohne Wirkung.

Karteikarte aus dem Bestand der „Mischlingskartei“. Der 1937 geborene Oskar Grünwald war als „Geltungsjude“ kategorisiert.

Bestand der „Mischlingskartei“, Wiener Stadt- und Landesarchiv

Karteikarte aus dem Bestand der „Mischlingskartei“. Der 1937 geborene Oskar Grünwald war als „Geltungsjude“ kategorisiert. Seine „arische“ Mutter beantragte nach dem Tod seines jüdischen Vaters eine Umstufung als „Mischling“. Grünwald war einer der wenigen Fälle, in denen dies gelang.

Privilegierte und nichtprivilegierte „Mischehen“

Um nicht den Widerwillen breiterer „arischer“ Kreise zu erregen, beschlossen die NS-Behörden, bestimmte „Mischehen“ besser zu stellen als andere. Ehepaare, bei denen der Mann „arisch“ und die Frau jüdisch waren, wurden als privilegierte „Mischehe“ bezeichnet. Diese wurden vom Großteil der antijüdischen Bestimmungen ausgenommen, konnten in ihren Wohnungen bleiben und ihr Vermögen auf den „arischen“ Teil überschreiben.

Ausstellung und Veranstaltung

Letzte Orte vor der Deportation - Castellezgasse, Malzgasse, Kleine Sperlgasse; Ort: Krypta des Heldendenkmals/Äußeres Burgtor-Heldenplatz; Zeit: noch bis 30. Juni 2017, Mo-Fr 9.00-11.30 und 12.30 bis 16.00 Uhr

Gedenkveranstaltung dazu am 24.1. 24. Jänner 2016, Festsaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften,, Dr. Ignaz-Seipel-Platz 2 1010 Wien

War der Mann jüdisch und die Frau „arisch“, galten die Familien nur dann als privilegiert, wenn „nichtjüdisch erzogene“ Kinder („Mischlinge“) vorhanden waren. „Mischehen“ mit nichtjüdischem Haushaltsvorstand, deren Kinder als Mitglieder der IKG aufschienen und daher „Geltungsjuden“ waren, galten hingegen als nichtprivilegiert. Nichtprivilegierte „Mischehen“ wurden aus ihren Wohnungen delogiert, mussten mit anderen Familien in bedrängten Sammelwohnungen leben, bekamen geringere Lebensmittelrationen und waren ab September 1941 zum Tragen eines gelben „Judensterns“ auf ihrer Kleidung verpflichtet.

Streit innerhalb des NS-Apparats

Mit Beginn der großen Deportationen aus Wien in den Jahren 1941/42 hing das Überleben in „Mischehefamilien“ zunehmend vom nichtjüdischen Partner und Elternteil ab. Im Falle einer Scheidung oder bei aufgelöster „Mischehe“ durch Tod des „arischen“ Partners verloren jüdische Familienmitglieder ihren Schutz.

Im Zuge der Wannseekonferenz und mehrerer Folgekonferenzen zur sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ im Jänner, März und Oktober 1942 wurde die Frage der „Mischehen“ und „Mischlinge“ diskutiert, welche für die Nationalsozialisten ein „unerledigtes Problem“ darstellten.

Während Vertreter der Parteikanzlei auf ihre Deportation und Ermordung drängten, um diese Gruppe endgültig zum Verschwinden zu bringen, plädierten Staatssekretär Wilhelm Stuckart und Ministerialrat Bernhard Lösener aus dem Reichministerium des Innern für ein Sterilisationsverfahren von „Mischlingen“, da sie die „psychologischen und politischen Auswirkungen an der Heimatfront“ und den Unmut seitens der nichtjüdischen Angehörigen fürchteten.

Diese Bedenken setzten sich durch. Die Tatsache, dass das von ihnen vorgeschlagene Massensterilisationsverfahren jedoch nicht umsetzbar war, führte dazu, dass diese Gruppe letztendlich bis zum Kriegsende weitgehend vor radikalen Verfolgungsmaßnahmen geschützt blieb, obwohl die Pläne dazu nie ganz aufgegeben wurden.

Auf einem aufgeschlagenen Buch liegt eine Brille, Bücher

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Literaturhinweise

Dieter J. Hecht, Eleonore Lappin-Eppel, Michaela Raggam-Blesch: Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien. Mit einem Vorwort von Heidemarie Uhl, Wien: Verlag Mandelbaum 2015.
Michaela Raggam-Blesch: Zwischen Solidarität und Distanz. Die jüdische Gemeinde und „Mischehefamilien“ im NS-Regime, in: Petra Ernst, Dieter J. Hecht, Louise Hecht, Gerald Lamprecht (Hg.), Geschichte Erben – Judentum Re-Formieren. Beiträge zur modernen jüdischen Geschichte in Mitteleuropa, Wien: Mandelbaum 2016, S.196-214.
Doris Bergen, Andrea Löw, Anna Hájkova (Hg.), Alltag im Holocaust. Jüdisches Leben im Großdeutschen Reich 1941-1945, München: Oldenbourg 2013.
Evan Burr Bukey: Jews and Intermarriage in Nazi Austria, New York / Cambridge: Cambridge University Press 2011.
Wolf Gruner: Widerstand in der Rosenstraße. Die Fabrik-Aktion und die Verfolgung der „Mischehen“ 1943, Frankfurt am Main: Fischer TB Verlag 2005.
Peter Longerich: Wannseekonferenz. Der Weg zur „Endlösung“, München: Pantheon 2016.

Wer keinen Stern trug, wurde deportiert

Nichtsdestotrotz kamen „Mischehefamilien“ nach Abschluss der großen Deportation immer mehr in den Fokus der Behörden. „Geltungsjuden“ und jüdische Partner aus nichtprivilegierten „Mischehen“ standen als „Sternträger“ unter prekärem Schutz, da sie öffentlich als Juden gekennzeichnet und Anpöbelungen durch die nichtjüdische Bevölkerung ausgesetzt waren.

Vor allem Jugendliche versuchten die Stigmatisierung zu umgehen, indem sie den Stern mittels Stecknadeln oder Druckknöpfen an der Bekleidung festmachten, um ihn jederzeit ablegen und damit Orte besuchen zu können, die ihnen offiziell verboten waren.

Da die antijüdische Gesetzgebung immer weitere Bereiche des Lebens betraf, kam es zu einer zunehmenden Kriminalisierung des jüdischen Alltags, da beispielsweise sowohl das Halten von Haustieren als auch das Kaufen von Kuchen für Juden verboten war. Jüdinnen und Juden durften ohne Genehmigung keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen und waren ab Juli 1942 von jeglicher Form des schulischen Unterrichts ausgeschlossen.

Häufig konnte erst durch „Verstöße“ wie dem Besorgen von für Juden verbotenen Lebensmitteln (Eier, Milch, Fleisch und Weizenmehlprodukte) eine gewisse Normalität hergestellt werden. Wurden Betroffene jedoch ohne Stern oder mit für Juden verbotenen Waren angetroffen, kamen sie in „Schutzhaft“ und wurden zumeist aufgrund solcher „Vergehen“ deportiert.

Die 21jährige Katharina Fischer, nach NS-Gesetzen als „Geltungsjüdin“ kategorisiert, wurde im Februar 1943 ohne Stern aufgegriffen. Sie wurde nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Erkennungsdienstliche Aufnahme der Gestapo Wien, Wiener Stadt- und Landesarchiv

Die 21-jährige Katharina Fischer, nach NS-Gesetzen als „Geltungsjüdin“ kategorisiert, wurde im Februar 1943 ohne Stern aufgegriffen. Sie wurde nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Jüdisches Leben bis 1945

Trotz der prekären Lebensumstände konnte ein kleiner Teil der als jüdisch definierten Bevölkerung bis Kriegsende in Wien überleben. Mit der Gründung des „Ältestenrats“ im November 1942 war nun die Nachfolgeorganisation der IKG für „Mischehefamilien“ zuständig, welche bis zu diesem Zeitpunkt den Kontakt zur Kultusgemeinde zumeist gemieden hatten. Da „Mischehefamilien“ mehrheitlich nicht der jüdischen Religion angehörten, musste die Nachfolgeorganisation der IKG den Bedürfnissen der neuen Mitglieder nachkommen.

Demnach erteilte der „Ältestenrat“ katholischen Geistlichen die Erlaubnis, ihre Pfleglinge im jüdischen Altersheim und Spital seelsorgerisch zu betreuen. Im jüdischen Kinderheim wurde neben Hanukkah auch Weihnachten und Ostern gefeiert und Krippenspiele aufgeführt. Gleichzeitig wurden bis Kriegsende regelmäßig jüdische Gottesdienste abgehalten.

Von etwa 201.000 Personen, die nach dem „Anschluss“ in Österreich als Jüdinnen und Juden definiert worden waren, konnten etwa 5.500 Personen das Kriegsende in Wien überleben. Die überwiegende Mehrheit davon in „Mischehe“ (etwa 4.500 Personen) oder durch den Schutz eines nichtjüdischen Elternteils (über 700 Personen). Die Anzahl jener, die sich als so genannte U-Boote der Deportation entzogen und im Verborgenen überlebten, wird zusätzlich auf bis zu 1.000 Personen geschätzt.

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