Lernen aus der Geschichte

Die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg werden oft für den Aufstieg Hitlers verantwortlich gemacht. Die Historikerin Margaret MacMillan sieht das differenzierter. Sie glaubt auch nicht, dass wir heute vor einer ähnlich autoritären Ära stehen wie in den 1930er Jahren.

Parallelen gebe es zwar, aber die demokratischen Institutionen seien heute viel stärker als damals. Die britisch-kanadische Historikerin von der Universität Oxford ist ab heute Gast einer internationalen Konferenz, die von der Universität Wien und der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung veranstaltet wird.

Sowohl Konferenzort als auch Wissenschaftlerin sind selbst „geschichtsträchtig“: Das Schloss Eckartsau in Niederösterreich war die letzte Residenz von Karl I., dem letzten Kaiser. Margaret MacMillan ist die Urenkelin des britischen Premierministers David Lloyd George, der nach dem Ersten Weltkrieg bei der Friedenskonferenz in Paris für sein Land verhandelte. MacMillan hat das mehrfach preisgekrönte Buch „Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte“ geschrieben und vor der Konferenz mit science.ORF.at gesprochen.

science.ORF.at: Sind Historiker besser geeignet, über die Zukunft zu spekulieren als andere Menschen?

Margaret MacMillan: Nein, wir bilden nur eine von vielen Stimmen, können aber intelligente Fragen zur Gegenwart stellen, weil wir mit der Vergangenheit vergleichen können. Das tun natürlich auch andere wie Soziologen, Künstler oder Politiker, aber Historiker können langfristige Perspektiven einbringen – und schauen, ob etwas einem längeren Trend folgt oder nur kurzfristig passiert.

Was wären das für intelligente Fragen zur Gegenwart?

MacMillan: Etwa ob der Rechts- und Linkspopulismus heute ähnlich ist wie der Populismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Oder ob wie damals viele Menschen von den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen so enttäuscht sind, dass sie sich wieder jenen zuwenden, die einfache Lösungen anbieten. Oder wie wir verhindern können, dass sich das wiederholt, was in den 1930ern in Ländern wie Deutschland geschehen ist.

Margaret Macmillan 2014 in der Universität Oxford

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Margaret Macmillan 2014 in der Universität Oxford

Ist die Situation heute vergleichbar?

MacMillan: Nein, nicht ganz. Die demokratischen Institutionen sind heute viel stärker, weil sie viel länger Zeit hatten sich zu entwickeln. Deutschland ist dafür ein gutes Beispiel, es ist nicht mehr das Deutschland der 1930er. Dazu gibt es heute viel mehr internationale Organisationen. Aber natürlich sehen wir heute viele beunruhigende Zeichen wie die Rückkehr der Demagogie. Etwa Donald Trump, der an die niedrigen Instinkte seiner Anhängerschaft appelliert. Er spricht sehr unverblümt über die Ängste vor Migration und Menschen, die anders aussehen als man selbst. Er verspricht sehr einfache Lösungen und attackiert Institutionen wie die Justiz oder die Presse. Das ist gefährlich, denn je mehr diese Institutionen angegriffen werden, desto schwächer werden sie. Und es gibt Leute, die Demokratie oder Sozialdemokratie nicht mögen und sie unterwandern. Herr Putin in Russland versucht sich in sehr destruktiver Weise in die europäische Politik einzumischen und jene zu unterstützen, die das System zerstören wollen.

Wenn man aus der Geschichte lernen kann: Welche Lektionen haben Sie da im Sinn?

MacMillan: Man sollte etwas gegen die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm unternehmen. Wir haben gesehen, wie diese vor dem Ersten Weltkrieg Probleme verursacht hat. In den 1930ern war es ähnlich, und das führt verständlicherweise zu Ressentiments, Menschen fühlen sich vernachlässigt, und das ist gefährlich. Wir wissen aus der Geschichte, dass Gesellschaften, die ökonomisch gleicher sind, auch glücklicher sind. Wenn man die Kluft wachsen lässt, bekommt man eine Politik der Ressentiments.

Was sollte die Politik heute tun, um das zu verhindern?

MacMillan: In den 80er und 90er Jahren war es üblich, öffentliche Dienstleistungen und den Sozialstaat zu beschneiden, die Steuern für die Wohlhabenden zu senken, und das ist zu weit gegangen. Heute ist es für ärmere Menschen schwieriger, eine gute Ausbildung oder einen guten Job zu bekommen. Wir begründen Ungleichheit ab einem sehr jungen Alter, und das führt nicht nur zu mehr Polarisierung, sondern vergeudet auch die Talente dieser jungen Menschen. Wir haben mit der Idee übertrieben, dass der Staat ineffizient ist. Unternehmen können auch ineffizient sein. In Großbritannien wurden viele öffentliche Dienstleistungen privatisiert, jetzt muss die Regierung einiges davon wieder zurücknehmen – etwa bei den Gefängnissen, die privat schlecht geführt wurden. Und auch beim öffentlichen Verkehr gibt es heute eine große Zustimmung, ihn wieder zu verstaatlichen.

Zurück zum Konferenztitel: Stehen wir nun am Beginn eines neuen autoritären Zeitalters?

MacMillan: Nun, es gibt ein paar beunruhigende Zeichen, oder? Eine Reihe von Politikern unterwandern in ihren Ländern die demokratischen Institutionen. Präsident Erdogan in der Türkei etwa, der die freie Presse unterdrückt und politische Gegner verfolgt. Oder die Angriffe von Victor Orban auf die Presse oder die Central European University in Ungarn. Ebenso in Polen der Versuch, das unabhängige Verfassungsgericht unter Kontrolle zu bringen. Und Donald Trump beunruhigt ebenfalls, seine Instinkte sind sehr autoritär, und es ist sehr bezeichnend, dass die Politiker, mit denen er am besten zurechtkommt, andere autoritäre Führer sind.

US-Präsident Woodrow Wilson (rechts) bei der Pariser Friedenskonferenz. Neben ihm (von links nach rechts):  Vittorio Orlando, David Lloyd George und Georges Clemenceau

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US-Präsident Woodrow Wilson (rechts) bei der Pariser Friedenskonferenz 1919. Neben ihm (von links nach rechts): die verhandelnden Premierminister Vittorio Orlando, David Lloyd George und Georges Clemenceau

In dem Vortrag, den Sie Mittwochabend halten, verknüpfen Sie die Pariser Friedensverträge von 1919 mit dem Europa der Gegenwart – welche Verbindungen sind da die wichtigsten?

MacMillan: Der Erste Weltkrieg und die Friedensverträge sind nicht voneinander zu trennen. Ein wichtiger Punkt, der bis heute nachwirkt, sind natürlich die Grenzen der europäischen Länder. Nicht alle, aber die meisten stammen von damals und existieren bis heute. Die Verträge haben auch den Völkerbund gebracht, der versucht hat künftige Konflikte zu verhindern. Das hat zwar nicht funktioniert, aber es hat eine wichtige Idee mit Leben erfüllt und grundlegende Institutionen geschaffen. Einige von ihnen, wie die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), gibt es bis heute, das war ein wichtiger Schritt vorwärts. Was die Pariser Friedensverträge auch ausgezeichnet hat, war die Idee, dass Entscheidungen über Bevölkerungen nicht nur von mächtigen Männern in Konferenzzimmern getroffen werden sollten, sondern auch von den betroffenen Menschen selbst. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker wurde in Paris stark vertreten.

Nicht nur, aber vor allem die politische Rechte hält die Bedingungen der Pariser Verträge für die Ursache der späteren Entwicklungen, nicht zuletzt für den Aufstieg des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg …

MacMillan: Das halte ich für falsch. Paris war nur einer von mehreren Faktoren. Man kann nicht einen Faktor herausklauben und diesen für alle weiteren Entwicklungen verantwortlich machen, sonst hätten die später Handelnden überhaupt keine Kontrolle mehr über ihr Schicksal. Menschen haben in den 20er oder 30er Jahren gute und schlechte Entscheidungen getroffen, und ich denke, die Geschichte hätte auch anders weitergehen können. Die Nazis waren ebenso wenig unvermeidlich wie der Zweite Weltkrieg.

Wo hätte die Geschichte anders abbiegen können?

MacMillan: Die Historiker haben sich bis heute noch nicht ausreichend mit den 1920ern beschäftigt. Das Jahrzehnt wird meist nur als Vorspiel betrachtet, für das, was danach kam. Dabei entwickelte sich Europa damals positiv: Es gab politische Stabilität, die Wirtschaft erreichte wieder das Niveau der Vorkriegszeit, es wurde ernsthaft versucht, die Verlierer des Ersten Weltkriegs wieder in die internationale Staatengemeinschaft zu integrieren – so wurde Deutschland 1925 auch Mitglied des Völkerbunds. Unter dem hervorragenden deutschen Außenminister Gustav Stresemann wurde mit Frankreich kooperiert, im Briand-Kellogg-Pakt wurde Krieg geächtet, es gab große Abrüstungskonferenzen – insgesamt also viele Zeichen für eine friedlichere Welt. Ende der 1920er Jahre ist es dann zur Weltwirtschaftskrise gekommen – und Menschen haben konkrete – und falsche - Entscheidungen getroffen. In der deutschen Elite, im Militär, in der Politik rund um Hindenburg herrschte die Vorstellung, dass man die Popularität der Nazis nützen und kontrollieren könnte – das war ein großer Fehler. Sie verhalfen Hitler zur Macht, und dann wurde er sie los, und nicht wie geplant umgekehrt.

Margaret MacMillan 2014 im Gespräch mit Prinz Charles

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Margaret MacMillan 2014 im Gespräch mit Prinz Charles

Welche Rolle haben die Friedensbedingungen der Pariser Verträge für diese Entwicklungen in Deutschland und Österreich nun gespielt?

MacMillan: Wie gesagt, sie waren ein Faktor von vielen. Das Problem Österreichs war, dass es nie ein Land war. Es gab die deutschsprachigen Habsburger-Territorien, man verlor den Krieg und plötzlich war da dieses Land ohne großen Zusammenhalt. Aus europäischer Sicht war die Frage Deutschland viel wichtiger, weil das Land viel größer war. Dort gab es eine Reihe von Problemen. Zu allererst: Kein Land, das jemals einen Krieg verlor, hat das als fair empfunden. Aber Deutschland hat den Krieg verloren. Es wurde auf dem Schlachtfeld entscheidend geschlagen, aber das wurde von vielen nicht akzeptiert. Und das lag daran, dass sie vom deutschen Oberkommando seit 1916 im Unklaren darüber gelassen wurden, was wirklich passiert ist. So hat sich die Meinung verbreitet, dass die Niederlage nicht an den Schlachtfeldern lag, sondern an Verrätern zuhause, die berühmte „Dolchstoßlegende“. Zudem gab es eine – vom deutschen Außenministerium unterstützte – Debatte über die Frage, wer den Krieg begonnen hat, man versuchte zu beweisen, dass niemand schuld daran war. Wenn man aber den Krieg nicht begonnen und ihn nicht verloren hat – dann ist jeder Friedensvertrag ungerecht.

Und wie gerecht war der Vertrag für die Deutschen?

MacMillan: Er war nicht so schlecht. Wenn man ihn mit dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk vergleicht, den Deutschland im März 1918 Russland aufgebürdet hat, dann war der sehr viel härter. Deutschland hat Russland dabei große Territorien weggenommen, aus der Ukraine eine Art Protektorat gemacht, ebenso aus den baltischen Staaten und Weißrussland. Nach Paris musste Deutschland zwar Reparationen zahlen – was zum größten Teil dann ohnehin nicht geschehen ist –, hat einige Kolonialgebiete verloren, aber kaum eigenes Territorium. Und noch ein Gedanke: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland viel schlechter behandelt – besetzt, zweigeteilt, die Sowjets haben alles mitgenommen, was sie konnten, aus Zentraleuropa wurden viele Deutsche vertrieben, aber darüber gab es sehr viel weniger Klagen.

Das liegt wohl auch daran, dass die Deutschen schwer abstreiten konnten, den Zweiten Weltkrieg verloren zu haben …

MacMillan: Ja, klar, deshalb haben sich die Alliierten auch für eine bedingungslose Kapitulation Deutschlands entschieden. Es sollte die Niederlage spüren. Das war eine sehr bewusste Entscheidung, nicht zuletzt wegen der Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg.

Letzte Frage zu Österreich: Warum war es den Alliierten so wichtig, dass Österreich nicht ein Teil Deutschlands werden durfte nach dem Ersten Weltkrieg?

MacMillan: In Österreich war die Meinung zum Anschluss geteilt, die konservative und rechte Seite fand die Vorstellung zu dem Zeitpunkt nicht sehr gut – 1919 hatte Deutschland eine sozialistische Regierung. Aus Sicht der Alliierten war es ganz einfach: Deutschland hatte den Krieg verloren. Wenn man nun Österreich einen Anschluss erlaubt hätte, hätte Deutschland sein Gebiet vergrößert und wäre wie ein Kriegsgewinner dagestanden – das wollten die Alliierten nicht und deshalb haben sie das Anschlussverbot in den Vertrag hineingeschrieben.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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