Eine Revolution im juristischen Sinn

Am 12. November 1918 ist die Republik Österreich ausgerufen worden. Gegründet wurde sie eigentlich schon am 30. Oktober, mit einem Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung - juristisch eine Revolution, wie der Jurist Thomas Olechowski ausführt.

Im Rahmen der zahlreichen Jubiläen, die das Jahr 2018 mit sich bringt, wird besonders die 100. Wiederkehr des 12. November 1918, des Tages, an dem die Republik (Deutsch-)Österreich ausgerufen wurde, gefeiert. Doch fand die Gründung unseres Staates nicht am 12. November, sondern bereits am 30. Oktober 1918 statt, und zwar mit dem Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung „über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt“.

Thomas Olechowski

Uni Wien

Der Autor

Thomas Olechowski ist ao. Universitätsprofessor für Rechtsgeschichte an der Universität Wien und Obmann der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Diesem Beschluss war eine Reihe militärischer und politischer Ereignisse vorausgegangen. Am 16. Oktober, als der Erste Weltkrieg schon praktisch verloren und die Monarchie kurz vor ihrem Auseinanderbrechen war, erließ Kaiser Karl I. ein „Völkermanifest“, in dem er die Abgeordneten des österreichischen Parlaments dazu aufrief, sich nationenweise zu „Nationalräten“ zu gruppieren, um so eine Umgestaltung der Monarchie vorzubereiten. Dieser Versuch zur Rettung der Monarchie kam viel zu spät, da die tschechischen und die südslawischen Abgeordneten zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr auf eine Umwandlung der Monarchie, sondern auf Loslösung ihrer Länder vom Habsburgerreich drängten.

Langsame Auflösung der Monarchie

Lediglich die deutschsprachigen Abgeordneten reagierten auf das Völkermanifest, indem sie für den nächsten Montag, 21. Oktober, eine Versammlung einberiefen – bewusst nicht im Parlamentsgebäude am Ring, sondern im niederösterreichischen Landhaus in der Herrengasse. 104 deutschnationale, 65 christlichsoziale, 38 sozialdemokratische und ein fraktionsloser Mandatar waren zur ersten Sitzung geladen, und schon an diesem Tag wurde klar, dass auch diese Versammlung nicht an einen Fortbestand der Monarchie glaubte. Sie konstituierte sich als „Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich“ und wählte einen 20-köpfigen Vollzugsausschuss. Dessen Mitglied Karl Renner von der Sozialdemokratischen Partei wurde beauftragt, eine provisorische Verfassung zu entwerfen.

Das allgemeine Zeichen zur Auflösung der Monarchie gab der letzte k. u. k. Außenminister, Gyula Graf Andrassy, als er am 28. Oktober alle politischen Forderungen der feindlichen Mächte, darunter auch die nach Anerkennung der Tschechoslowakei als selbständigen Staat, akzeptierte. Noch am selben Tag erklärte die Tschechoslowakei ihre Unabhängigkeit. Am 29. Oktober riefen die Südslawen des Habsburgerreiches den „Staat der Slowenen, Kroaten und Serben“ aus (der schon am 1. Dezember mit Serbien und Montenegro zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen – nun also in umgekehrter Reihenfolge – fusionierte).

Es folgten am 30. Oktober die Gründung des Staates Deutschösterreich, am 31. Oktober die Loslösung Ungarns von der Doppelmonarchie sowie am 1. November die Ausrufung der Westukrainischen Volksrepublik (die später von Polen annektiert wurde). Erst vor diesem Hintergrund wird die Tragweite des Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober deutlich: Innerhalb von fünf Tagen hatten alle Völker der Monarchie, soweit sie sich nicht anderen, bereits existierenden Staaten anschlossen (Italien, Polen, Rumänien), ihre eigenen Staatswesen gebildet.

Parallelregierungen

In ihrem Beschluss vom 30. Oktober erklärte die Provisorische Nationalversammlung, dass sie die oberste Gewalt des Staates Deutschösterreich für sich selbst beanspruchte. Sie gab dem jungen Staat eine provisorische Verfassung und wählte eine Staatsregierung. Letzteres ist besonders bemerkenswert, weil Kaiser Karl und „seine“ Minister zu diesem Zeitpunkt nach wie vor im Amt waren. Fast zwei Wochen amtierten die Regierungen des „alten“ Österreichs und des „neuen“ Österreichs nun nebeneinander.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass das, was die Mitglieder der Provisorischen Nationalversammlung am 30. Oktober 1918 unternahmen, aus der Sicht des Staatsrechts der Monarchie Hochverrat war, worauf zu jener Zeit noch die Todesstrafe stand. Doch hatten die Behörden des „alten“ Österreichs zu diesem Zeitpunkt schon längst die faktische Macht verloren. Menschenmengen sammelten sich an diesem und dem folgenden Tag überall in der Wiener Innenstadt, das Automobil des Kriegsministers wurde mit Steinen beworfen, der Minister selbst von einer Glasscherbe im Gesicht verletzt.

Das Militärkommando Wien wurde ersucht, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, konnte dieser Aufgabe jedoch nur nachkommen, indem einer der drei Präsidenten der Provisorischen Nationalversammlung, der Sozialdemokrat Karl Seitz, gebeten wurde, die Menschenmenge zu beruhigen. Schon am 31. Oktober kam es zu einem Treffen der kaiserlich-königlichen mit der deutschösterreichischen Regierung, bei dem die Amtsgeschäfte formell übertragen wurden. Nur die k. u. k. Armee und der diplomatische Dienst Österreich-Ungarns unterstanden noch weiter den k. u. k. Ministerien.

Originäre Verfassung

Diese Vorgänge waren eine Revolution im juristischen Sinne. Denn die Verfassung des neuen Österreichs leitete sich nicht aus der Verfassung des alten Österreichs ab; sie entstand originär. Die Provisorische Nationalversammlung legitimierte sich allein damit, dass sie aus gewählten Volksvertretern bestand – allerdings waren diese zu einem ganz anderen Zweck gewählt worden als dem, einen neuen Staat zu gründen. Die demokratische Legitimation der Nationalversammlung stand also auf schwachen Beinen, weshalb sobald als möglich, im Februar 1919, Neuwahlen durchgeführt wurden.

Wann endete die Monarchie?

Zu diesem Zeitpunkt, am 11. November, hatte Kaiser Karl bereits erklärt, „auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften zu verzichten“. Eine formelle Abdankung war das nicht, lediglich ein – vorläufiger? – Rückzug aus der Politik.

Auch er wollte das Ergebnis der Wahlen abwarten. Karl blieb in Österreich, in Eckartsau, einem idealen Ort, um nötigenfalls nach Wien, nach Pressburg, nach Budapest oder nach Prag zu reisen, wo immer die Stimmung für ihn günstig sein würde. Dennoch hatte er politisch den Weg dazu geebnet, dass die Provisorische Nationalversammlung, die in ihrem Beschluss vom 30. Oktober die Frage der Staatsführung bewusst offengelassen hatte, am 12. November die Republik proklamierte. Diese explizite Entscheidung gegen die monarchische Regierungsform wurde von der im Februar gewählten Konstituierenden Nationalversammlung am 12. März 1919 ausdrücklich bekräftigt. Erst nun, am 24. März 1919, ging der ehemalige Kaiser ins Schweizer Exil.

Wann aber endete die Monarchie? Am 11. November 1918 mit der Verzichtserklärung des Kaisers und der Entlassung seiner Minister? Am 12. November 1918 mit der letzten Sitzung des alt-österreichischen Parlaments? Am 19. Dezember 1918 mit der Auflösung des k. u. k. Armeeoberkommandos? Oder gar erst am 8. November 1920 mit der Liquidierung des diplomatischen Dienstes der k. u. k. Monarchie? Juristisch lässt sich darauf keine eindeutige Antwort finden.

Thomas Olechowski

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