China: Glücklich trotz Kontrolle

Ist das Leben reglementiert und kontrolliert, sind Menschen konservativ, weniger kreativ und nicht so glücklich, sagen psychologische Theorien. In China scheint das nicht zu gelten - das legt zumindest eine Befragung aus 31 Provinzen nahe.

Menschen brauchen Regeln und soziale Normen - nur so funktioniert das Zusammenleben von Gruppen, in Familien wie in Ländern. Schon Kinder lernen beispielsweise, dass man niemanden etwas wegnimmt oder dass man nur bei „Grün“ über die Straße geht. Wie viele implizite und explizite Regeln es gibt und wie stark die Einhaltung kontrolliert bzw. sanktioniert wird, ist jedoch sehr variabel. Von sehr strengen bis zu extrem lockeren Gruppen und Gesellschaften reicht die weltweite Bandbreite.

Warum es so große Unterschiede im sozialen Miteinander bzw. bei den sozialen Normen gibt, beschäftigt die US-Psychologin Michele Gelfand seit einigen Jahren. Sie hat das Phänomen im Konzept der „Tightness-Looseness“ („Strenge“ vs. „Lockerheit“) zusammengefasst. In einer ihrer ersten Studien zum Thema, die 2011 im Fachjournal „Science“ erschienen ist, hat Gelfand 33 Nationen - darunter auch Österreich - hinsichtlich ihrer Strenge untersucht.

Gefahren machen streng

Dafür wurden Menschen unter anderem befragt, wie angemessen bestimmte Verhaltensweisen sind und welche Sanktionen bei Nichtbeachtung drohen. Die Auswertung ergab: Extrem streng ist das Regelwerk in Pakistan, Indien und Malaysia, besonders locker lebt es sich hingegen in der Ukraine oder in Estland (interessanterweise befand sich damals auch Ungarn unter den wenig strengen Ländern). Österreich lag beim Strenge-Index in der Mitte, gemeinsam mit Frankreich, Deutschland, Italien und Großbritannien.

Buchhinweis

In „Rule Makers, Rule Breakers: How Tight and Loose Cultures Wire Our World“ (Scribner, 2018) erläutert Michele Gelfand ihr Modell.

Die Wurzeln der Unterschiede liegen laut Gelfand in der Vergangenheit: Die strengeren Regeln entwickeln sich als Reaktion auf äußere wie innere Bedrohungen, so die These. Das können Kriege genauso gut sein wie Naturkatastrophen, aber auch eine hohe Bevölkerungsdichte oder knappe Ressourcen. Ein Beispiel sei etwa das sozial stark reglementierte Japan. Wegen seiner geografischen Lage sei es enorm gefährdet, z.B. durch Erdbeben. Ohne solche Bedrohungen können Kulturen viel offener und liberaler agieren, lautet Gelfands Erklärung.

Strenge Volksrepublik

Mittlerweile wurde Gelfands Theorie auch von anderen Forschern weiterentwickelt. Eine soeben in den „Proceedings of the National Academy of Science“ erschienene Studie hat das Modell nun in China überprüft. Die Volksrepublik gilt generell als relativ strenges Land - das spiegelt sich auch in seiner Position auf einer „Tightness-Looseness-Skala“ (2014).

Im Mittelpunkt der aktuellen Studie stand aber nicht das ganze Land, sondern ein Vergleich zwischen seinen Provinzen bzw. Verwaltungseinheiten. Die Studienautoren um Roy Chua stammen übrigens aus Singapur, das selbst zu den strengsten Ländern der Welt zählt - dort sind sogar Kaugummis und Spucken bei Strafe verboten. Das könnte Gelfands Theorie folgend unter anderem mit der enormen Bevölkerungsdichte im Inselstaat zu tun haben.

Streng und kontrolliert

Über 11.000 Menschen haben an der dreijährigen Studie in 31 chinesischen Regionen teilgenommen. Das „Tightness-Looseness-Modell“ wurde dabei zumindest teilweise bestätigt. So gab es beispielsweise in den strengeren Gegenden mehr staatliche Kontrolle, größere Einschränkungen des täglichen Lebens und die Bewohner waren weniger offen.

Und - wie Michele Gelfand in einem noch nicht veröffentlichten, aber science.ORF.at vorliegenden „PNAS“-Kommentar zur Studie schreibt - auch in China sind die Regeln überall dort strenger, wo es in der Vergangenheit viele Bedrohungen bzw. Konflikte gab, z.B. in Regionen, die im Zweiten Weltkrieg von Japan besetzt worden waren, in Grenzgebieten oder wenn Krankheiten und Umweltbelastungen häufiger gewesen sind. Die Forscher aus Singapur haben Gelfands Modell in manchen Bereichen weiter differenziert. Beispielsweise unterscheiden sie zwischen schrittweiser und radikaler Innovation. Letztere findet eher in weniger reglementierten Provinzen statt.

China ist anders

Neben den - in Gelfands Augen doch erstaunlich vielen Überreinstimmungen in den unterschiedlichen Kulturkreisen - gab es aber doch auch deutliche Abweichungen von früheren Untersuchungen zum „Tightness-Looseness“-Modell, z.B. von Studienergebnissen aus den USA, wonach strengere Gebiete meist eher ländlich sowie konservativ sind, und die Menschen, die dort leben, weniger kreativ und nicht so glücklich.

So geht Strenge in China - anders als in den USA - mit Urbanität einher. Für diesen Unterschied gebe es laut Gelfand eine recht plausible Erklärung. In den USA sind Städte anonym und freier, am Land findet eine Art informelle Überwachung durch die anderen Menschen statt. In China sei es genau umgekehrt: Städte kann man heute gut offiziell überwachen, Bewohner von dünn besiedelten ländlichen Regionen sind hingegen weit entfernt von den „Augen der Zentralregierung“.

Kulturelle Übereinstimmung

Anders als in den USA gibt es in Chinas strengen Landstrichen auch ein größeres Wirtschaftswachstum und mehr Geschlechtergerechtigkeit. Die Bewohner sind zudem gesünder und toleranter gegenüber Randgruppen. Laut der Studie sind die Menschen in den strengen Regionen sogar glücklicher sowie generell zufriedener mit ihrem Leben. Das könnte laut den Studienautoren mit anderen kulturellen Besonderheiten der Volksrepublik zu tun haben. Individualität sei in China nicht so zentral, das Kollektiv bzw. die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft spielen eine viel wichtigere Rolle. Und für das persönliche Wohlbefinden sei die Übereinstimmung zwischen solchen Wertvorstellungen und äußerer Welt wahrscheinlich ausschlaggebend.

In eine ähnliche Richtung geht auch Gelfands Erklärung in ihrem Kommentar zur Studie, die ebenfalls die „kulturelle Übereinstimmung“ hervorhebt: Nachdem China generell ein strenges Land ist, sind strenge Provinzen wahrscheinlich glücklicher. Die USA sind eher locker, lockere Bundesstaaten daher vermutlich glücklicher.

Außerdem könnten in China noch einige andere spezielle Dynamiken am Werk sein, so Gelfand, z.B. wurden die wirtschaftlichen Regeln und Zwänge besonders in den Städten gelockert und gleichzeitig die soziale Kontrolle erhöht. Das könnte eine Erklärung für das Wirtschaftswachstum sein. Nicht auszuschließen, dass dieser gewachsene Wohlstand auch eine gewisse Rolle beim individuellen Wohlbefinden spielt.

Nicht in Stein gemeißelt

Außerdem müsste man die Studienergebnisse in einen größeren Kontext setzen, betont Gelfand in ihrem Kommentar: Es sei zwar erstaunlich, dass in Chinas strengen Regionen die relativ glücklicheren Menschen leben, aber - wie frühere Untersuchungen zur Lebenszufriedenheit ergaben - findet sich China als Ganzes tendenziell am unteren Ende der Glücksskala. Außerdem könnten Aussagen zum Glück von offiziellen Erzählungen stark beeinflusst sein, z.B. über die „Loyalität zur großen chinesischen Familie“.

Jedenfalls zeige die neue Studie, dass es sich lohnt, nicht nur die universellen Muster des „Tightness-Looseness“-Modells zu untersuchen, sondern auch jene im jeweiligen nationalen Kontext. Wie streng oder locker ein Land ist, sei aber generell nicht in Stein gemeißelt, wie Gelfand gegenüber science.ORF.at erklärt. Manchmal ändert sich das Verhältnis sogar dramatisch. Etwa wenn autokratische Führer gezielt Ängste schüren und damit eine Sehnsucht nach strengeren Regeln wecken. „Im Allgemeinen dürfte ein halbwegs ausbalanciertes Verhältnis zwischen Strenge und Lockerheit für Wohlbefinden und Wohlstand ideal sein“, so Gelfand, in Ländern genauso wie in Unternehmen oder Familien.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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