Mehr Grün für die „Felsenlandschaft“

Großstädte sind für die Stadtplanerin Helga Fassbinder ein Teil der Natur. Diesem Leitgedanken folgt ein Bauprojekt in Wien-Favoriten: Die „Biotope City Wienerberg“ soll zeigen, wie urbanes Leben in Zukunft aussehend wird. Oder aussehen könnte.

Vor rund einem Jahr machten Bilder des chinesischen Fischerdorfes Houtouwan die Runde im Internet. National Geographic, die Smithsonian Institution und diverse TV-Stationen berichteten, verantwortlich für das mediale Interesse war ein ungeplantes Langzeitexperiment in diesem bis dahin völlig unbekannten Städtchen auf der Insel Shengshan.

Wie würde die Welt ohne Menschen aussehen? Diese Frage wird in Houtouwan beantwortet. 20 Jahre ist es her, seit die letzten Einwohner die Insel verlassen haben, 20 Jahre hatten Flora und Fauna Zeit, den Lebensraum zurückzuerobern. Und das Ergebnis ist spektakulär: Die Häuser sind von Pflanzen überwuchert, das Dorf ist noch immer als solches erkennbar – aber es ist komplett grün, ein Teil der Natur. Mittlerweile hat sich die Insel zu einem beliebten Ausflugsziel entwickelt. Mit den Touristen sind übrigens auch wieder einige Bewohner in das verlassene Dorf zurückgekehrt.

Wenn es nach Helga Fassbinder geht, könnten in ein paar Jahrzehnten auch die Großstädte Europas so ähnlich aussehen. Wohlgemerkt mit Menschen darin, einen Exodus plant die deutsch-niederländische Stadtplanerin nicht. Ganz im Gegenteil. „Wir haben ein befremdliches Bild der Natur - als wäre sie etwas anderes als wir selbst, das ist doch völlig verkehrt“, sagt die in Wien und Amsterdam lebende Gründerin der Stiftung Biotope City. In Fassbinders Weltbild gibt es keinen Gegensatz zwischen Stadt und Natur, urbane Lebensräume sind für sie ganz normale Ökosysteme. „Städte sind Teil der Natur, sie sind Felsenlandschaften mit Homo sapiens als Hauptbewohner - und all den Pflanzen, Vögeln und Insekten, die sich in solchen Landschaften niederlassen.“

Verdichtung und Begrünung

Wenn Fassbinder für so einen Perspektivenwechsel argumentiert, geht es ihr letztlich um praktische Überlegungen. Sie möchte durch umfassende Begrünung das Leben in Städten lebenswerter machen. Und sie will vor allem zwei drängende Probleme lösen, die in den nächsten Jahren auf urbane Lebensräume zukommen. Auch in Wien.

Grüne Zone: Blick vom Balkon eines Hochauses in der Biotope City

Helga Fassbinder

In Favoriten entsteht eine Stadt in der Stadt: die Biotope City Wienerberg

Die Bundeshauptstadt ist - wie viele Ballungszentren - seit der Jahrtausendwende stark gewachsen und dürfte im Jahr 2027 die Zwei-Millionen-Einwohner-Schwelle überschreiten. Noch gibt es Platz für neue Bauprojekte, etwa in Aspern oder im Umfeld des neu errichteten Hauptbahnhofs, doch irgendwann sind auch diese Reserven aufgebraucht. Die Folgen des Klimawandels, das ist das zweite Problemfeld, sind in Wien bereits spürbar, die Zahl der Hitzetage (über 30 Grad Celsius) und Tropennächte (über 20 Grad) hat in diesem Sommer Rekordniveau erreicht. Folgt man den Prognosen der Klimaforscher, ist das bloß ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird. Es wird noch heißer werden.

Fassbinders Lösung lautet: Verdichtung und Begrünung. Was das bedeutet, kann man in der Triester Straße im zehnten Wiener Gemeindebezirk in Erfahrung bringen. Dort entsteht gegenwärtig die Biotope City Wienerberg, eine Stadt in der Stadt mit 950 Wohnungen. Die Häuser haben bis zu zwölf Stockwerke und stehen inmitten von Naturlandschaften, Autos parken hier ausschließlich unterirdisch in Tiefgaragen, so entstehen trotz der hohen Bevölkerungsdichte Freiräume für grüne Erholungszonen.

Baustelle: Blick vom Balkon eines Hochauses in der Biotope City

Helga Fassbinder

Baustelle am Wienerberg: Das Grün kommt noch

Grün werden auch die Hausdächer, Balkons und nicht zuletzt die Fassaden sein, wo vor allem Wilder Wein an Hitzetagen für ein gemäßigtes Mikroklima sorgen soll. Ebenso wie Spitzahorn, Roteichen und Schwarzkiefern in den Parks – bei normalen Bauprojekten ist die Begrünung „der erste Streichposten, wenn das Geld knapp wird“, erzählt Fassbinder. Hier indes waren die Pflanzen integraler Bestandteil des Konzepts. Letztlich soll das Projekt zeigen, wie urbanes Leben in der Zukunft aussehen wird. Oder zumindest, wie es aussehen könnte.

Die ganze Stadt als Biotop?

Dass Parks Feinstaub schlucken und die Luftqualität verbessern, ist allgemein bekannt. Messungen zeigen auch, dass die Temperatur in städtischen Biotopen bis zu vier Grad niedriger ist als in herkömmlichen Stadtteilen. Das Problem der urbanen Hitzeinseln wäre also lösbar.

Nur: Was ist mit dem Rest der Stadt? „Biotope City ist ein Vorzeigeprojekt“, sagt Fassbinder. „Aber man kann ja dazulernen. Ich halte es für absolut möglich, dass man das Konzept der intensiven Begrünung auf die gesamte Stadt ausweitet.“ Das hieße letztlich auch: ein radikaler Umbruch im Verkehrskonzept. Eine durchgängig begrünte Stadt wäre schon allein aus Platzgründen weitgehend autofrei. Ob das politisch jemals durchsetzbar sein wird, ist freilich eine andere Frage.

Wilder wein an einer Hausfassade

APA/dpa/Nicolas Armer

Wilder Wein sorgt für ein gemäßigtes Mikroklima

Immerhin: Im Kleinen gibt es solche Ansätze bereits. Für die Wiener Aspangstraße im dritten Bezirk hat die Architektur- und Stadtforscherin Betül Bretschneider so ein Begrünungskonzept entwickelt. Die meisten Anwohner sind dafür, dass Vorgärten und Glyzienranken an den Fassaden dem Grätzel ein neues Gesicht geben und im Sommer überdies für Kühlung sorgen. Laut Bretschneider würden durch diese Maßnahmen bloß zehn Parkplätze verloren gehen, Ausweichflächen wären in den angrenzenden Tiefgaragen ausreichend vorhanden. Nun ist die Stadt am Zug. Wie und wann das Konzept umgesetzt wird, ist noch Gegenstand von Verhandlungen.

Von Paris lernen

Einen Schritt weiter ist man in Paris. Als Bertrand Delanoë dort im Jahr 2001 Bürgermeister wurde, musste er eine Koalition mit der Grünen Partei eingehen und wollte seinen Koalitionspartnern wohl das Umweltthema nicht überlassen, ohne auch selbst Akzente gesetzt zu haben. Die Vorreiterrolle von Paris stammt jedenfalls aus dieser Zeit, dort sind begrünte Fassaden im Bebauungsplan häufig sogar vorgeschrieben, jardins partagés, also Gemeinschaftsgärten, gehören ebenso zum urbanen Alltag wie der Strand an der Seine oder jene Oase, die regelmäßig auf dem Vorplatz des Rathauses errichtet wird. Delanoës Nachfolgerin Anne Hidalgo setzt diese Tradition fort: Im Frühling nächsten Jahres soll in Paris die größte Dachfarm der Welt entstehen – Gemüsebeete auf einer Fläche, die in etwa zwei Mal so groß ist wie ein Fußballfeld.

Mann fährt mit dem Fahrrad an einer begrüntern Fassade vorbei

APA/AFP/ALAIN JOCARD

Rue d’Aboukir, Paris

„Was Paris macht, ist Avantgarde“, sagt Fassbinder – und gibt auch Wien gute Noten in Sachen Klimaschutz. Mit dem Wohnpark Alterlaa habe man schon in den 1970ern erfolgreich gezeigt, wie Verdichtung und Begrünung als städtebauliche Prinzipien funktionieren. Dass die „vertikale Stadt“ in Wien-Liesing gewisse Ähnlichkeiten zur nun entstehenden Biotope City aufweist, ist übrigens kein Zufall. Harry Glück (1925 – 2016), der Architekt der Alterlaaer Wohntürme, war auch an der Planung des Vorzeigeprojekts am Wienerberg beteiligt.

Doch Wien wäre nicht Wien, wenn das Visionäre nicht auch von bürokratischen Dissonanzen begleitet würde. Die Brandschutzgenehmigung für Wilden Wein an den Fassaden zu bekommen, erzählt Fassbinder, sei "nicht ganz einfach gewesen“. Man merkt: Dieser Satz wurde diplomatisch formuliert.

Robert Czepel, science.ORF.at

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