Die Kirche machte uns zu Individualisten

Warum sind Menschen in westlichen Ländern eher individualistisch und weniger angepasst? Ausgerechnet die Kirche ist dafür verantwortlich, meinen nun Forscher: Ihr mittelalterliches Heirats- und Familienprogramm habe die „westliche Psyche“ bis heute geprägt.

Wie Menschen denken und wie sie sich verhalten liegt auch daran, wo bzw. in welcher Kultur sie geboren wurden und leben. Das klingt wie eine Binsenweisheit - in der Psychologie werden die teils enormen Unterschiede dennoch erst seit Kurzem anerkannt. In den meisten älteren Untersuchungen waren es westliche Menschen, die als Prototypen für die menschliche Psyche herhalten mussten. 2010 prägte der Psychologe Joseph Henrich von der Harvard University dafür einen eigenen Begriff: „WEIRD“, was zum einen „seltsam“ bedeutet, zum anderen aber auch ein Akronym für „western, educated, industrialised, rich and democratic“ ist.

Man sollte sich fernhalten von dieser homogenen Personengruppe, die nicht „das menschliche Verhalten“ repräsentiert, argumentierte er damals in einem „Nature“-Kommentar. Mittlerweile weiß man, dass Menschen aus der „WEIRD“-Gruppe - wie etwa Westeuropäer, US-Amerikaner und Australier - eher individualistisch, unabhängig und analytisch sind sowie meist weniger angepasst und gehorsam als etwa Menschen in östlichen Ländern, z. B. in China.

Die „westliche Psyche“

Ein Team um Henrich hat sich nun auf die Suche nach den Wurzeln dieser „westlichen Psyche“ gemacht. Der Ausgangspunkt der Arbeit war ein anthropologischer. Wie Henrich in einer Telefonkonferenz zu der soeben in „Science“ veröffentlichten Studie erklärt, hatte er bei Feldforschungen auf den Fidschi-Inseln bemerkt, wie wichtig die Verwandtschaftsverhältnisse für das Zusammenleben in der Gruppe dort sind. Evolutionär betrachtet waren Familienbande tatsächlich lange Zeit die entscheidende Sozialstruktur in menschlichen Gesellschaften.

Jesus am Kreuz

APA/HELMUT FOHRINGER

Das Christentum hat die westliche Welt nachhaltig verändert

Abhängig von ökologischen oder wirtschaftlichen Bedingungen waren die Netze immer etwas anders gestrickt, schreiben die Autoren. In Jäger-und-Sammler-Gruppen waren sie demnach weitmaschiger, damit man sich im Fall von Katastrophen fernen Familienmitgliedern anschließen konnte. Mit der Sesshaftigkeit sei das Netz dann deutlich engmaschiger geworden. Das war nötig, um die Zusammenarbeit zu gewährleisten und um größere Gebiete verteidigen zu können – Werte wie Loyalität, Solidarität und Gehorsam gegenüber Älteren waren plötzlich sehr wichtig. Um die Familienbande straff zu halten, wurden Partnerschaften zwischen nahen Verwandten – die Verwandtenheirat - begrüßt und gefördert. So entstanden große Clans, die zusammenhielten.

In vielen Weltregionen ist die Großfamilie bis heute sehr wichtig. Und die Heirat zwischen Verwandten wird immer noch forciert, wie der aus dem Iran stammende Koautor Duman Bahrami-Rad von der Harvard University betont. In seiner Heimat werden etwa 30 Prozent aller Ehen zwischen Cousins und Cousinen ersten oder zweiten Grades geschlossen, in Pakistan z. B. seien es mehr als die Hälfte. In typischen westlichen Gesellschaften hingegen ist es verpönt, in der Familie zu heiraten. Großfamilien spielen kaum eine Rolle.

Religiöse Praxis

Dass sich die Gesellschaften in den vergangenen zweitausend Jahren so unterschiedlich entwickelt haben, liegt laut den Forschern um Henrich an der jeweiligen Religion. Während Verwandten- und Vielehe in vielen Glaubensrichtungen wie etwa dem Islam geduldet bis erwünscht waren und sind, propagierte die christliche Kirche ab dem Mittelalter ein völlig anderes Modell: Inzest war ab sofort verpönt, sogar die Heirat unter weitschichtig verwandten und angeheirateten Familienmitgliedern war ab dem zweiten Jahrtausend tunlichst zu vermeiden. Propagiert wurde auch die freie Partnerwahl, und junge Paare sollten - wenn möglich - eigene Haushalte gründen.

In dieser geänderten Lebensrealität änderten sich auch die Menschen, und zwar nachhaltig: Waren früher Konformismus und Loyalität gefragt, ging es immer mehr um ein unabhängiges, individuelles Leben. Die typische westliche Denkweise entstand also in christlich geprägten Ländern – ironischerweise spielt Religion dort heute nur mehr eine untergeordnete Rolle. Ein Vergleich von psychologischen Tests aus mehreren Ländern bestätigt laut den Autoren die mentalen Unterschiede.

Tatsächlich ließen sich die Auswirkungen sogar quantifizieren. Je länger ein Land in den vergangenen 1.500 Jahren unter dem Einfluss der Kirche stand, umso ausgeprägter waren die typisch westlichen Eigenschaften der Bewohnerinnen und Bewohner. Sie waren individualistischer, weniger angepasst und vertrauten Fremden mehr als Menschen in Ländern mit großfamiliären Strukturen. Der Zusammenhang bestätigte sich sogar auf regionaler Ebene – für ihre Studie haben die Forscher nämlich auch Daten aus 440 Regionen in 36 europäischen Ländern ausgewertet. In Italien beispielsweise zeigte sich: Dort, wo die Verwandtenehe häufig ist, leiht man sich Geld eher von der Familie als von der Bank und spendet weniger Blut für die Allgemeinheit.

Menschliche Vielfalt

Andere Einflüsse, wie z. B. wirtschaftliche oder klimatische Faktoren, scheinen laut den Forschern bei der Entstehung der westlichen Persönlichkeit keine vergleichbare Rolle gespielt zu haben.

Warum die Kirche ab dem Mittelalter ein anderes Familienmodell propagierte und so besessen war vom Inzest bzw. vom Verbot desselben, ist nicht klar, wie die Autoren in der Telefonkonferenz betonen. Vielleicht profitierte sie finanziell davon, wenn nicht mehr alle Verbindungen möglich waren und manche Erblinien zwangsläufig endeten. Es könnte aber auch sein, dass manche psychologischen Veränderungen in der Gesellschaft schon den Boden für die neue Familien- und Ehepolitik bereitet hatten, spekuliert Michele Gelfand in einem Begleitkommentar zur Studie.

Darin unterstreicht Gelfand, wie wichtig Studien wie diese sind, nicht nur für die Wissenschaft: „Indem sie zeigen, wie sehr sich Kulturen unterscheiden und warum sie so sind, wie sie heute sind, helfen sie uns, Mitgefühl mit jenen zu entwickeln, die anders sind als wir.“

Eva Obermüller, science.ORF.at

Mehr zum Thema