Warteschlangen für das Wenige in den Geschäften gehörten in der Nachkriegszeit zum Alltag, Wien
APA/Bildarchiv/Natl.bibl.
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Gastbeitrag

Die Neuerfindung des „Roten Wien“ nach 1945

Von 1919 bis 1934 hat die Sozialdemokratische Partei in Wien mit absoluter Mehrheit regiert. Diese Ära des „Roten Wien“ gilt bis heute sozialpolitisch als Vorbild. In einem Gastbeitrag beleuchtet Matthew Berg, wie die Nachfolgepartei nach Ende des Zweiten Weltkriegs versuchte, das sozialistische Erbe wiederzubeleben. Der US-Historiker hält heute in Wien einen Vortrag zum Thema.

Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ) neu gegründet (zuvor Sozialdemokratische Arbeiterpartei, Anm.). Bei der ersten Gemeinderatswahl in Wien im November 1945 gewann sie mit absoluter Mehrheit. In der Gemeindeverwaltung im Zusammenhang mit den Erfahrungen der Wienerinnen und Wiener beim Übergang von der NS-Herrschaft und dem Krieg zur neuen demokratischen Republik hatte die Partei die dominierende Stellung.

Matthew Berg
Jan Dreer

Über den Autor

Matthew Paul Berg ist Professor für moderne europäische Geschichte an der John Carroll University in Cleveland, Ohio, USA, und derzeit Fulbright ifk Senior Fellow am am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz in Wien, wo er ein Buchmanuskript mit dem Titel „Reinventing ‚Red Vienna‘ after 1945: Denazification, Transitional Justice, and Everyday Life“ fertigstellt.

Gutes tun

Die Menschen teilten den Verantwortlichen im Rathaus ihre Alltagssorgen mit, die von Wohnbedürfnissen, fehlender Beschäftigung oder obligatorischer Arbeitspflicht bis hin zu Bitten um Sozialhilfe oder Nothilfe reichten. Die neue SPÖ-Regierung strebte nach zwei aufeinanderfolgenden faschistischen Regimen und unter den aktuellen Bedingungen von Entbehrung, Verwüstung, Erschöpfung und ausländischer Besatzung eine Regierung an, die für alle Bürgerinnen und Bürger – unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit – verantwortlich ist.

SPÖ-Funktionäre – sei es in ihrer kommunalen oder parteipolitischen Funktion – waren sich darüber im Klaren, dass sie der Organisation und Wahlstärke der Partei förderlich sein können, wenn sie Gutes für die Bevölkerung tun, reaktionsschnell und zuverlässig sind. Auch wenn sie die Menschen daran erinnern mussten, ihre Erwartungen unter den schwierigen Nachkriegsbedingungen zu zügeln, da der Wiederaufbau der physischen Infrastruktur, der Wirtschaft und der sozialen Netzwerke Zeit brauchen würde – ebenso wie ein neues Gefühl der Normalität in Friedenszeiten.

Liquidierung von Nazismus

So diente etwa das SPÖ-Referat zur Liquidierung des Nazismus – eine parteispezifische Organisation, die über keine staatliche Autorität verfügte – als Anlaufstelle für Wiener Bürger und Bürgerinnen, an die sie Informationen über ehemalige Nationalsozialisten weiterleiten konnten, die nicht den obligatorischen Fragebogen im Zusammenhang mit der Entnazifizierung eingereicht hatten.

Das Referat ergänzte Informationen und alarmierte nach entsprechender Überprüfung die Stadtverwaltung und die Staatspolizei. Dieses Beispiel zeigt, wie die Wiener SPÖ-Organisation eine Möglichkeit für die Bürgerinnen und Bürger schuf, in den ersten sechs Monaten nach dem Krieg zum Aufbau der Demokratie beizutragen, ihre antifaschistischen Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen und Zeugnis über ihre Alltagserfahrungen unter den Nazis und in den ersten Wochen des Bestehens der Zweiten Republik zu geben.

Ansuchen um Wiedereintritt

Auch ehemalige Sozialdemokraten, die zu Nazis geworden waren, versuchten häufig, wieder in die Partei einzutreten. Das zeigen Quellen, die sowohl die Bandbreite der unterschiedlichen Begründungen für den Beitritt zur NSDAP als auch die Art und Weise zeigen, wie die SPÖ-Organisation darauf reagierte.

Die Erklärungen lauteten etwa, dass sie ihre NSDAP-Mitgliedschaft nie dazu benutzt hätten, sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen oder anderen zu schaden, oder dass sie sich sogar an antifaschistischen Aktivitäten beteiligt hätten, indem sie Widerstandsgruppen mit Informationen versorgt oder von der Gestapo gesuchte Personen, die als politische oder „Rassen“-Feinde galten, beherbergt hätten.

SPÖ-Beamte auf Bezirks-, Landes- und Bundesebene beurteilten diese Anträge und berücksichtigten bestätigende Beweise, bevor sie ihre Entscheidungen trafen. Einige wurden danach wieder in die Partei aufgenommen, anderen wurde gesagt, sie sollten die Einführung des absehbaren Amnestiegesetzes abwarten und dann erneut einen Antrag stellen. Dieses Gesetz wurde 1948 erlassen und hob die Beschränkungen für „Minderbelastete“ auf – einschließlich ihres Rechts, politischen Parteien beizutreten, zu wählen, ein gewähltes Amt zu bekleiden, als Beamte zu arbeiten und in ihre Berufe in den Bereichen Recht, Medizin, Kultureinrichtungen, Bildung und Unternehmensführung zurückzukehren.

Tiefgreifende Sozialisierung

Die kurze Zeitspanne von 1945 bis 1949 ist daher für die Bewertung der Gründung der SPÖ in Wien und der Stadtverwaltung von zentraler Bedeutung. Während es in den folgenden Jahrzehnten Prüfungen und Wachstumsschmerzen gab, waren diese Jahre entscheidend für die Etablierung einer demokratischen politischen Kultur und einer kompetenten Regierungsführung, für die Rückkehr des „Roten Wien“ – ohne die Gefahr eines Bürgerkriegs, aber mit neuen Herausforderungen und Möglichkeiten.

Obwohl das sozialdemokratische Lager noch einige Jahre von freier politischer Aktivität und Regierungsführung entfernt war, bewies es seine Widerstandsfähigkeit auf Organisations- und Basisebene durch eine tiefgreifende Sozialisierung, die nicht von allen gleichermaßen erlebt wurde, aber weitreichend genug war, um den Fortbestand zu sichern.

Politische Säuberung

Als Ende 1949 die meisten ehemaligen Nazis wieder in das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben integriert und zwei Wahlzyklen ohne Zwischenfälle verlaufen waren, hatte die SPÖ etwas weniger das Gefühl, intern, innenpolitisch oder von den Besatzungsbehörden kontrolliert zu werden.

Die Stimmen vieler ehemaliger Nazis waren verfügbar und SPÖ, ÖVP und KPÖ versuchten, ihre Unterstützung zu gewinnen. Da sie nicht mehr ausgegrenzt wurden, waren die einstigen „Minderbelasteten“ politisch einwandfrei, wie jeder Österreicher, der nicht Teil des braunen Lagers geworden war. 1957 wurde eine ähnliche Gesetzgebung auf die als „belastet“ eingestuften Personen ausgeweitet, wodurch eine politische Säuberung, wenn auch nicht im Geiste, so doch juristisch vollgezogen wurde.

Während das Phänomen der ehemaligen Nazis im politischen Leben Österreichs in den folgenden Jahrzehnten – beispielsweise in den 1970er und 1980er Jahren – nicht ignoriert wurde, gab es bis Anfang des 21. Jahrhunderts keine tiefgreifende wissenschaftliche Untersuchung der sogenannten „Braunen Flecken“ in den großen politischen Parteien.