Aufstand gegen Sklaverei, Theodor de Bry (1595)
John Carter Brown Library
John Carter Brown Library

Kolonisierung und die Würde des Menschen

Die Kolonisierung Lateinamerikas hat für Spanien ein Zeitalter des Wohlstands gebracht – für die indigene Bevölkerung hingegen kriegerische Auseinandersetzungen, eingeschleppte Krankheiten und Ausbeutung. Schon damals löste dies Diskussionen über Würde und Rechte eines Menschen aus, wie die Romanistin Tamara Bartl in einem Gastbeitrag beschreibt.

Im Jahr 1492 erreichte Christoph Kolumbus Amerika. Dank dessen Kolonisierung avancierte Spanien zu einer politischen und wirtschaftlichen Weltmacht. Berichte über El Dorado und seine unermesslichen Goldschätze lockten unzählige Glücksritter in ihrem Streben nach Macht und Reichtum aus der Alten in die Neue Welt. Die Kolonisatoren selbst wurden für ihre Dienste an der Krone mit der Zuteilung von Land und der Nutzung der Arbeitskraft der indigenen Bevölkerung belohnt.

Was folgte, waren gewaltsame Konflikte und eine Jahrhunderte andauernde Unterdrückung und Ausbeutung der indigenen Bevölkerung, deren Nachwirkungen noch heute spürbar sind. Doch bereits in der Kolonialzeit entstanden Schriften, die nicht nur das Handeln der Spanier kritisch reflektierten, sondern auch umfassende Diskussionen über den ethischen Umgang mit dem Menschen und seiner Würde ins Blickfeld rückten.

Die Würde eines Menschen

Heute begreifen wir Menschenwürde als einen universellen Wert, der allen Menschen von Natur aus zukommt und sie zugleich von anderen Lebewesen und Dingen unterscheidet. Auch wenn diese Auffassung nicht immer selbstverständlich war, lassen sich Ansätze dieses Gedankens bis in die Antike zurückverfolgen. Bereits Cicero spricht von einer Gemeinschaft aller Menschen, die auf Vernunft und Sprache beruht.

In der christlichen Tradition wurde diese Gleichheit aller Menschen mit Vernunftbegabtheit sowie der Ebenbildlichkeit Gottes argumentiert und damit ein ethischer Universalismus propagiert. Doch wurden im Zuge der Kolonisierung nicht alle Menschen von Beginn an als solche angesehen und entsprechend behandelt.

Tamara Bartl
IFK, Jan Dreer

Über die Autorin

Tamara Bartl ist Doktorandin am Institut für Romanistik der Universität Wien und war wissenschaftliche Mitarbeiterin im FWF-Projekt „Kasuistik in der frühneuzeitlichen Literatur Spaniens“. Derzeit ist sie Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz in Wien.

Die Rolle der Kasuistik

Berichte über die Gräueltaten in den Kolonien veranlassten Kasuisten – also Theologen und Juristen – dazu, sich aus einer moralischen Perspektive mit der Behandlung der indigenen Bevölkerung auseinanderzusetzen. Dabei analysierten sie ethische Fälle, sogenannte casos, die sich durch die sozialen Veränderungen der Zeit ergaben.

In diesem Zusammenhang bedienten sich die Kasuisten argumentativer Strukturen, um Fälle mit neuen, bisher noch unbekannten Umständen zu lösen. Im Kontext der Kolonisierung Lateinamerikas setzte sich der Moraltheologe und Naturrechtslehrer Francisco de Vitoria mit Themen wie Sklaverei und Dominium (Herrschaftsrecht) auseinander. In seiner Relectio De Indis (1539) diskutierte er, ob es Sklaven von Natur aus gäbe und wer herrschen oder etwas besitzen durfte.

Die Chroniken der Neuen Welt

Die Ereignisse in den Kolonien verbreiteten sich zudem durch Berichte, Briefe und Chroniken wie ein Lauffeuer in ganz Europa. Bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts erreichten die ersten Briefe des Christoph Kolumbus Europa, gefolgt von jenen des Hernán Cortés über die Kolonisierung des Aztekenreiches. Bald erschienen auch umfassendere Chroniken. Diese historiographischen Texte beruhen jedoch nicht nur auf Fakten, da die Selbststilisierung und Legitimierung der eigenen Handlungen und Ziele für Chronisten eine bedeutende Rolle spielten.

Als Informationsquellen sind diese Chroniken ambivalent, da sie die für Europäer fremden Völker oftmals mit stark stereotypen Darstellungen als Wilde und Kannibalen porträtierten. Die Schilderungen der Begegnung mit dem Anderen, Fremden und Exotischen übten jedoch eine außergewöhnliche Faszination auf das europäische Lesepublikum aus, wodurch die Chroniken zu wahren Bestsellern wurden.

Aufstand gegen Sklaverei, Theodor de Bry (1595)
John Carter Brown Library
Theodor de Bry, 1595: Aufstand gegen Sklaverei

Unter den Chronisten befanden sich aber auch äußerst kritische Stimmen, allen voran Bartolomé de las Casas. In seiner Brevísima Relación de las Destrucción de las Indias (dt. Kurzgefasster Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder, 1552) verurteilte er die schlechte Behandlung der indigenen Bevölkerung auf das Schärfste und trat für deren Schutz ein.

Weitaus weniger bekannt ist heute Juan Rodríguez Freyles Chronik El Carnero, die zwar zwischen 1636 und 1638 verfasst, jedoch erst 1859 publiziert wurde. In prägnanten Fällen berichtet er darin von Skandalen und Intrigen der spanischen Kolonialgesellschaft im Neuen Königreich von Granada (heute Kolumbien) und kritisiert deren moralisches Fehlverhalten. Dabei behandelt er auch die Gier der Spanier nach Gold. Noch heute ist die darin erzählte Legende von El Dorado berühmt, die nicht nur Abenteurer auf der Suche nach Gold, sondern auch das Imaginäre der Literatur inspirierte.

Vortrag

Tamara Bartl hält am 27. November 2023, 18:15 Uhr, am IFK einen Vortrag mit dem Titel „Von der Würde des Menschen. Kasuistische Verhandlungen in den Crónicas de Indias“; dieser findet hybrid statt.

Wechselwirkungen

Die Schriften von Kasuisten und Chronisten stehen keineswegs isoliert im kolonialen Diskurs. Vielmehr interagierten sie miteinander, beeinflussten sich wechselseitig und hatten einen starken Einfluss auf die koloniale Gesetzgebung der Zeit.

Kasuisten waren bekanntermaßen aufmerksame Leser der Chroniken, so stützte Vitoria seine Erörterungen auf Inhalte von Berichten seiner Ordensbrüder sowie anderer Chroniken. Es erscheint zudem unwahrscheinlich, dass die Diskussionen über die schlechte Behandlung der indigenen Bevölkerung an den Chronisten spurlos vorbeigegangen waren. Denn, wie wir aus den Chroniken wissen, war die Verschärfung von Gesetzen zum Schutz der indigenen Bevölkerung ein Diskussionspunkt, der unter den Kolonisatoren, die sich ihrer Entlohnung beraubt fühlten, zu Aufständen führte.

Aus diesem Grund lohnt es sich zu untersuchen, welche Übersetzungsprozesse durch die kulturellen Begegnungen mit fremden Kulturen in Gang gesetzt, wie die kulturellen Unterschiede transformiert wurden und wie dies letztendlich zu einer elaborierteren Sicht des Konzepts der Menschenwürde im Allgemeinen führte.