Umschlag von Joseph Roths „Die Kapuzinergruft“
Adelphi Edizioni
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Gastbeitrag

Wie Italien die österreichische Literatur entdeckte

Der Mailänder Verlag Adelphi zeichnet sich durch eine besondere Auswahl seiner Bücher aus. Ein wichtiger Bestandteil ist dabei österreichische Literatur. Wie Italien sie mit Hilfe des Verlags „entdeckte“, beschreibt der Romanist Davide Gnoato in einem Gastbeitrag.

Das Mailänder Verlagshaus Adelphi (aus dem Altgriechischen: Brüder) spielte in der Nachkriegszeit eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung österreichischer Literatur in Italien und füllte damit eine große Lücke. Nicht nur klassische Autoren der Wiener Moderne wie Hofmannsthal, Schnitzler, Kraus und Roth oder Beobachter der Krise wie Canetti und Benjamin fanden dank Adelphi neue Leser*innen, auch die Literatur von Kafka bis Freud, von Urzidil bis Márai und Singer, wurde durch Adelphi das Symbol eines mythischen Raums: eines imaginierten Mitteleuropas.

Porträtbild des Romanisten Davide Gnoato
IFK

Über den Autor

Davide Gnoato hat Germanistik, Anglistik, Romanistik und Slawistik in Trento, Dresden, Rouen und Wien studiert und ist derzeit ifk Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz in Wien.

Der Triester Germanist Claudio Magris, Autor u. a. von „Donau“ und „Weit von wo“, nannte diese Faszination bereits 1962 den „Habsburger Mythos“. Aber die Entdeckung Zentraleuropas bedeutete für die italienische Kultur mehr als nur die Entdeckung eines fremden Kulturraumes. Vielmehr versuchte Adelphi mit dieser Operation in der Zeit nach dem Wirtschaftswunder die italienische Kultur zu entprovinzialisieren. Das sollte durch Bücher erfolgen, die „einzigartig“ waren, die der offiziellen Kultur noch nicht gehörten und in die die außergewöhnliche Lebenserfahrung des Autors hineingeflossen ist. Die Architekten dieses Unternehmens waren Roberto „Bobi“ Bazlen und Luciano Foà.

Bazlen, Foà, Calasso und ein Land zum Wiederaufbauen

Bazlen, Sohn eines lutherischen Stuttgarters und einer jüdischen Venezianerin, war im mehrsprachigen, jüdischen Milieu Triests aufgewachsen. In diesem Schmelztiegel wurde er zum unersättlichen Leser, der seine „einzigartigen Bücher“ beim Bücherflohmarkt um wenig Lire suchte. Diese Bücher kamen aus den Privatbibliotheken der deutschen Bewohner, die nach dem Ersten Weltkrieg die Stadt verließen.

Bazlen erkannte sofort den Wert dieser „Flohmarktliteratur“ in deutscher Sprache mit ihren modernen und „einzigartigen“ Motiven: der Psychologie, dem Traum, der Kommunikationsunmöglichkeit, der Krise, der Kehrseiten der Moderne. Motive, die in der damaligen italienischen Literatur sonst wenig Platz fanden.

Umschlag von Alfred Kubins „Die andere Seite“, 1965, aus der Webseite der Adelphi Edizioni
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Alfred Kubins „Die andere Seite“, 1965

Foà wurde ebenfalls in eine israelitische Familie in Mailand geboren und arbeitete bei der ALI, der renommierten Agentur für fremdsprachige Literatur seines Vaters. Er lernte Bazlen 1937 kennen und ließ sich seitdem von seinem Freund über gute unentdeckte Literatur beraten, vor allem über jene Bücher, die für die Triester „einzigartig“ sein könnten.

Nach dem Krieg arbeiteten Bazlen und Foà u. a. mit Italo Calvino und Natalia Ginzburg beim prestigeträchtigen Turiner Verlag Einaudi. Die Ablehnung der kritischen Edition der Werke Friedrich Nietzsches war Anlass für Foà und Bazlen mit den Unternehmern Adriano Olivetti und Alberto Zevi Einaudi zu verlassen und Adelphi zu gründen. Dabei wurde auch Roberto Calasso rekrutiert, ein noch unbekannter zwanzigjähriger Doktorand der Anglistik. Der neue Verlag sollte nun Literatur veröffentlichen, die, frei von ideologischem Urteil und pädagogischem Zweck, für sich selbst stand. Eine wichtige Rolle spielte die mitteleuropäische Flohmarktliteratur, die Bazlen in Triest entdeckt hatte, mit einem Fokus auf jüdische Themen und Autor*innen.

Jüdisch-österreichische Literatur als Programm

Die jüdische Kultur wurde von der italienischen Germanistik (vor allem Magris, Giuliano Baioni und Massimo Cacciari) ab den 1960er Jahren zunehmend als Substrat der österreichischen und zentraleuropäischen Literatur der Jahrhundertwende verstanden. Bazlen und Calasso beriefen sich auf diese Auffassung und verstärkten sie mit der Veröffentlichung zahlreicher Bücher jüdisch-österreichischer Autor*innen. Der Germanist Michael Huter betont die Verbindung der Motive des skeptischen Humanismus und des Antihistorizismus des Judentums mit den vernunftkritischen Tendenzen der letzten Jahre der Habsburger Monarchie und der Zwischenkriegszeit. Die Krise der Monarchie und des Judentums steht für das Exil des Menschen in der Moderne, seine seelische Zersplitterung und den Heimatverlust.

Vortrag

Davide Gnoato hält am 11. Dezember 2023, 18:15 Uhr, am IFK einen Vortrag mit dem Titel „Auf der Suche nach den einzigartigen Büchern. Die Wirkung des Verlags Adelphi“; dieser findet hybrid statt.

Umschlag von Joseph Roths „Die Kapuzinergruft“, 1974, aus der Webseite der Adelphi Edizioni
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Umschlag von Joseph Roths „Die Kapuzinergruft“, 1974

Die jüdisch-barocke Kultur der Krise um 1900 wurde zu einem äußerst aktuellen Thema im Italien der 1970er Jahre, einer Zeit von großen sozialen Transformationen, von politischem Terrorismus und Ideologiekrisen. Adelphi antwortete darauf mit der Vermittlung einer Literatur der Krise, die stark auf den Erfahrungen des Autors und seinem besonderen Blickwinkel basierte. Angesichts der Instabilität und der wachsenden Barbarei der Moderne bot Adelphi Bücher an, die in ihrer Einzigartigkeit oder Einmaligkeit (der it. Begriff „libri unici“ ist zweideutig) die Menschen individuell ansprechen und „retten“ sollten. „Die Andere Seite“, der einzige Roman des Illustrators Alfred Kubin, der die Trauer um den Tod seines Vaters verarbeitet, gilt als Vorbild dieser stilistischen Ausrichtung und wurde 1965 als erstes Buch der Hauptreihe des Mailänder Verlags, Biblioteca Adelphi, veröffentlicht.

Joseph, nicht Philip Roth

Calasso, „der letzte große italienische Verleger“ wie mehrere Zeitungen geschrieben haben, ist im Sommer 2021 gestorben. Der Ruf seines Verlags ist nach wie vor intakt, vielleicht mit einer noch breiteren Öffentlichkeit als zuvor. Er steht vor allem finanziell gut da und hat mit der Zeit sein Angebot weiter diversifiziert. Die größten Verdienste des Verlags bestehen aber darin, erfolgreich eine alternative, erfahrungsorientierte Idee von Literatur in Italien seit 60 Jahren gefördert zu haben, und in dem Erfolg, stets ein Publikum für diese Bücher gefunden zu haben.

Joseph Roth wurde seit der Herausgabe der „Kapuzinergruft“ 1974 eines der Zugpferde Adelphis. Sein riesiger Erfolg, der sich über alle ideologischen Leser*innenkategorien erstreckte, wurde die Bestätigung für Calasso und seine Kollegen, dass sich das Bestreben lohnte. Italien ist wohl eines der wenigen nicht deutschsprachigen Länder, in dem der Name Roth eher an Joseph als an Philip erinnert.