Schüler und Schülerinnen in einer Klasse, vorne steht eine Lehrerin, eine Schülerin zeigt gerade auf
AFP – MIGUEL MEDINA
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Geschichtsunterricht

Unsicherheiten produktiv machen

Der Nahost-Konflikt fordert aktuell auch die Schulen heraus, etwa den Geschichtsunterricht. Dieser ist immer mit Unsicherheiten und Ängsten von Lehrpersonen verbunden, schreibt der Geschichtsdidaktiker Christian Heuer in einem Gastbeitrag – in Kriegszeiten besonders. Er plädiert dafür, diese Unsicherheiten produktiv zu machen.

Auch wenn die Bildungspolitik kurz nach dem 7. Oktober noch keine „gröberen Probleme“ in den österreichischen Klassenzimmern sah, hat der Nahost-Konflikt mittlerweile auch den Geschichtsunterricht erreicht und stellt dort eine zentrale Herausforderung im Alltag dar. Dass sich diese auf die Selbstbilder von Geschichtslehrer:innen auswirkt, manifestiert sich in kurzen Skizzen der Befragten: „Überforderung und Hilflosigkeit“, hieß es etwa in der „Kleinen Zeitung“, statt Distanz zu den Erwartungshaltungen, Anerkennung der grundlegenden Ungewissheit geschichtsunterrichtlichen Handelns, Zuversicht und Vertrauen in die eigene Professionalität als Geschichtslehrer:in.

Porträtfoto des Geschichtsdidaktikers Christian Heuer
KOENIGSHOFER MICHAEL

Über den Autor

Christian Heuer ist Professor für Geschichtsdidaktik am Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz.

Diese „Überforderung“ ergibt sich in erster Linie daraus, dass mit dem Nahost-Konflikt nicht allein der zu verurteilende Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober sowie die folgende Bombardierung und Besetzung des Gaza-Streifens umschrieben wird, sondern gleichzeitig auch eine komplexe Geschichte, die in ganz verschiedenen Geschichten und medialen Codierungen unterschiedlich verbreitet wird, gemeint ist. Der Konflikt ist damit nicht zuletzt auch ein komplexer und hoch aufgeladener öffentlicher Diskurs, der in ganz unterschiedlichen Echokammern und Räumen des Politischen erzählt wird und zu dem sich verhalten werden muss.

Ambivalenzen und Ängste

Dass diese Gemengelage verunsichert, Kontroversen und Streit evoziert, provoziert und gerade aufgrund ihrer multiplen und differenten Perspektiven irritiert, zeigt sich auch in den Klassenzimmern. In dieser verunsichernden Lage auch noch die Mäßigung im vorschnellen Urteilen, Reflexion und kommunikative Aushandlung zu fordern, scheint auf den ersten Blick eine unlösbare Aufgabe zu sein. Dass diese Gleichzeitigkeiten Effekte auf Prozesse historisch-politischer Bildung haben, ist dabei offensichtlich. Historisch-Politische Bildung zeigt sich, ob wir wollen oder nicht, eben auch in der Verweigerung und im Dissens. Geschichtsunterricht stellt einen hochgradig ambivalenten Bildungsort dar, an denen sich Praktiken der Disziplinierung, der Zustimmung und Verweigerung sowie des Widerstands gleichzeitig vollziehen.

Aus der Perspektive einer geschichtsdidaktischen Professionalisierungsforschung wissen wir, dass diese Ambivalenzen historisch-politischer Orientierung auf Seiten von Geschichtslehrer:innen, gerade im Umgang mit zeitgenössischen Kontroversen und Krisen, mit Unsicherheiten und Ängsten einher gehen. Es sind Ängste davor, sich zu positionieren, und Unsicherheiten im Umgang mit der inhärenten Widerständigkeit von geschichtsdidaktischen Möglichkeiten und Interventionen, über deren Erfolg man aufgrund der grundlegenden Ungewissheit geschichtsunterrichtlichen Handelns keine Sicherheit hat, für die man aber aufgrund der Professionalität als Geschichtslehrer:in dennoch verantwortlich ist.

Falsch verstandenes „Neutralitätsgebot“

Insbesondere fachdidaktischen Wissensordnungen wie etwa dem „Beutelsbacher Konsens“kommen in diesem Zusammenhang Entlastungsfunktionen zu, gerade weil sie von Lehrer:innen als Handlungsanweisungen erfahren werden, was in einer konkreten geschichtsunterrichtlichen Situation zu tun ist oder eben nicht. So haben die Grundsätze des Beutelsbacher Konsens (Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot und Schülerorientierung) längst ein Eigenleben in der Praxis der Lehrer:innenbildung als falsch gelesenes (und oftmals falsch vermitteltes) „Neutralitätsgebot“ entwickelt, das es Lehrer:innen prinzipiell untersagen würde, ihre eigene Positionierung im Raum des Politischen zu thematisieren.

Schüler und Schülerinnen in einer Klasse, vorne steht eine Lehrerin
AFP – JEFF PACHOUD

So falsch diese Lesart aber auch ist, so sehr suggerieren solche Handlungsanweisungen, dass es prinzipiell gelingen kann, Unsicherheiten im Kontext schulischen Geschichtsunterrichts in Sicherheiten zu überführen. Fehlt eine meta-reflexive Distanz zu diesen Wissensordnungen, so erscheinen diese Ordnungen wahrlich und im Foucaultschen Sinne als fragwürdige „Techniken des Regierens“, die letztlich zur Entpolitisierung und Deprofessionalisierung statt zur Professionalisierung der Lehrer:innenschaft beitragen.

Grundlegende Ungewissheit

Im Kontext neuerer Professionstheorien ist es aber gerade dieser Umgang mit der konstitutiven Ungewissheit schulischen Geschichte-Lehrens und Geschichte-Lernens, der den Kern ihrer Professionalität als Geschichtslehrpersonen ausmacht. Aus dieser Ungewissheit heraus resultiert eine besondere Form der Verantwortung, die nicht einfach durch die schematische Befolgung durch andere gesetzte Ordnungen, Regeln und Verfahren übernommen werden kann. Insbesondere deswegen, weil es Geschichtslehrpersonen gegenwärtig und eben auch zukünftig mit immer anderen Geschichte(n) zu tun haben werden, die sich einer planbaren Vermittlung der „richtigen“ Geschichte entziehen. Endgültige Sicherheiten lassen sich im Geschichtsunterricht also keine finden.

Der Geschichts- und Politikunterricht findet immer in neuen, komplexen und schwierigen Situationen statt, gerade weil immer anders historisch erzählt werden könnte und angesichts des Nahost-Konflikts auch wird. „Aus der Geschichte lernen“ wird gegenwärtig gerade deswegen in den österreichischen Klassenzimmern zum Problem, weil diese Forderung eine entscheidende Frage in den Hintergrund drängt: Aus welcher denn?

Das Geschichte-Unterrichten in Kriegszeiten vollzieht sich in Zeiten des Wartens und des Suchens, nach der adäquaten Sprache, dem richtigen Urteil und der geeigneten Form des Erklärens. Und es sind Zeiten des Aushaltens, eben der Irritationen, der Scham, Wut und der Angst. Ein verunsichernder Zustand auch deswegen, weil dieser Nahost-Konflikt alle Fragen und Bereiche zu umfassen scheint, die im Kontext historisch-politischer Bildungsprozesse relevant sind: Was darf gezeigt, von was berichtet werden? Wer sind wir und wer die Anderen? Wie kann von Krieg und Gewalt erzählt werden? Wer spricht und wer wird vergessen?

Wissen reicht nicht, um ins Gespräch zu kommen

Alles große Fragen, auf die es keine einfachen Antworten geben wird. Eine professionelle Geschichtslehrperson ist kein „Faktor“ bei der Krisenbewältigung, sondern ermöglicht gerade erst durch ihr professionelles Handeln im Geschichtsunterricht Bildungsbewegungen in der Krise. Und so stellt die Herausforderung des Nahost-Konflikts nicht nur eine Zumutung für Lehrer:innen dar, sondern bietet eben gleichzeitig auch eine Möglichkeit für gelingende Prozesse historisch-politischer Bildung in der Schule. Denn genau jetzt ist die Zeit an geschichtskulturell und politisch hoch relevanten Fragen gemeinsam zu arbeiten, nach Antworten zu suchen, einander zuzuhören, Streit auszuhalten, Dissens zu kultivieren, Grenzen zu setzen, Konsens zu verhandeln und dabei nicht das Menschsein aus den Augen zu verlieren und die Stimmen der Anderen zum Schweigen zu bringen.

Dabei gilt aber: Um das zu realisieren, kann ich als Geschichtslehrer:in nicht von mir selbst schweigen, mich nicht nicht-positionieren. Sondern auch ich darf mich verletzlich, verunsichert zeigen und absteigen vom distanzierten locus observandi der „richtigen“ Geschichte. Viel zu wissen, auch wenn es das vermeintlich Richtige ist, wird zu wenig sein, um miteinander, und eben nicht nur unter uns, sondern eben auch mit den Anderen, ins Gespräch zu kommen. Und dabei werden wir Fehler machen und sicherlich auch scheitern. Aber um das immer wieder gemeinsam zu tun, ist der Geschichtsunterricht der geeignetste Ort. Historisch-politisches Lernen löst also keine Probleme, sondern generiert immer wieder neue Probleme und ist ein Bildungsgeschehen, in dem ein:e Lehrer:in und ein:e Schüler:in anders werden.

Geschichts- und Politikunterricht ermöglicht so Situationen, in denen Schüler:innen und Lehrer:innen zeigen können, was sie sind, wo sie stehen und wohin sie wollen. Damit kann er dann aber genau das, was von ihm landläufig erwartet wird, nicht bieten, nämlich Sicherheit und gesicherte Orientierung. Was er aber kann, und das unterstreicht seine herausgehobene Bedeutung im Konzert der schulischen Fächer, er kann Unsicherheiten produktiv und damit zu Lernchancen für alle Schüler:innen machen. Nicht nur, aber auch in Kriegszeiten.