Schiffswrack unter Wasser
bennymarty/stock.adobe.com
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Dark Tourism

Orte des Schreckens als Attraktion

Zeugen von Katastrophen – etwa das Wrack der versunkenen „Titanic“ – üben auf Menschen seit Langem eine besondere Anziehung aus, wie Thomas Macho in einem Gastbeitrag ausführt. Am Donnerstag hielt der Kulturwissenschaftler in Wien einen Vortrag über die Anfänge des Katastrophentourismus und die Lust am Grauen.

Vor mehr als einem Jahrhundert – nämlich im Herbst 1921, wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, kurz nach der Pandemie der sogenannten Spanischen Grippe, der bekanntlich mehr Menschen zum Opfer gefallen sind als in allen Weltkriegsjahren zuvor – erscheint ein Inserat in den Basler Nachrichten unter der Headline „Schlachtfelder-Rundfahrten im Auto“. Für den ermäßigten Preis von 117 Schweizer Franken wird eine „Reklamefahrt“ ohne Passformalitäten durch die Schlachtfelder von Verdun angepriesen, ein „unerhört großartiges Gesamtbild von Grauen und Schrecken“.

Thomas Macho
Jan Dreer

Thomas Macho ist emeritierter Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und ehemaliger Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien.

Im November 1921 publiziert Karl Kraus in der Fackel eine bittere Glosse; darin heißt es einleitend: „In meiner Hand ist ein Dokument, das, alle Schande dieses Zeitalters überflügelnd und besiegelnd, allein hinreichen würde, dem Valutenbrei, der sich Menschheit nennt, einen Ehrenplatz auf einem kosmischen Schindanger anzuweisen. […] Aber was bedeutet wieder jenes Gesamtbild von Grauen und Schrecken, das ein Tag in Verdun offenbart, was bedeutet der schauerlichste Schauplatz des blutigen Deliriums, durch das sich die Völker für nichts und wieder nichts jagen ließen, gegen die Sehenswürdigkeit dieser Annonce! Ist hier die Mission der Presse, zuerst die Menschheit und nachher die Überlebenden auf die Schlachtfelder zu führen, nicht in einer vorbildlichen Art vollendet?“ (23. Jahrgang. Nr. 577–582. November 1921. Wien 1921. S. 96–98).

Legendäres Schiffsunglück

Ein zweites Beispiel: Mehr als elf Jahre vor den Autorundfahrten nach Verdun, in der Nacht vom 14. zum 15. April 1912, kollidierte der damals weltgrößte Passagierdampfer, die „Titanic“, mit einem Eisberg im Nordatlantik und versank zwei Stunden und vierzig Minuten später. Von den an Bord befindlichen 2.220 Menschen starben 1.514 Personen im eisigen Meer; bis heute gilt die Katastrophe der „Titanic“ als das größte Schiffsunglück der Geschichte.

Werbung in der Fackel
gemeinfrei
Annonce in der Fackel

Schon im selben Jahr 1912 wurden die ersten „Titanic“-Filme gedreht, und bereits am 27. April 1912 publizierte Die Fackel eine Reihe von Glossen unter dem Titel: „Großer Sieg der Technik: Silbernes Besteck für zehntausend Menschen oder Furchtbare Versäumnisse: Gott hat nicht Schiffbau studiert“; in diesen Glossen findet sich auch die nüchterne Feststellung: „An Bord der ‚Titanic‘ befanden sich fünfundzwanzig Millionäre, die zusammen mehr als 100 Millionen Pfund repräsentieren.“ (14. Jahrgang. Nr. 347–348. 27. April 1912. Wien 1912. S. 1–5).

Im Jahr 1985 wurde das Wrack der „Titanic“ entdeckt; und seither wurden zahlreiche Unterseeexpeditionen durchgeführt, Teile des Schiffs und andere Fundstücke geborgen. Neuerlich inspirierte diese Entdeckung weitere Filme, von Stephen Lows „Titanica“ (aus dem Jahr 1992) bis zu James Camerons „Titanic“ von 1997, mit Leonardo di Caprio und Kate Winslet in den Hauptrollen; dieser Film wurde mit insgesamt elf Oscars ausgezeichnet.

Hinweis

Bei der Tagung „Alles bröckelt. Über das Leben in Ruinen und das Reparieren von Infrastrukturen“, veranstaltet vom Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz in Wien (IFK), hielt Thomas Macho einen Vortrag über Dark Tourism.

Tödliche Tiefseemission

Erst im jüngst vergangenen Jahr erregte die „Titanic“ nochmals die tagelange Aufmerksamkeit internationaler Medien: Am 18. Juni 2023 implodierte das Tiefsee-Tauchboot „Titan“ der Firma OceanGate auf seinem Kurs zum Wrack; alle fünf Passagiere starben, darunter drei Touristen, die jeweils 250.000 Dollar für die Fahrt bezahlt hatten.

Neben Stockton Rush, dem Gründer von OceanGate, und Paul-Henry Nargeolet, einem französischen Tiefseeforscher, der bereits sechs Titanic-Expeditionen und rund dreißig Tauchgänge zum Wrack durchgeführt hatte, starben Hamish Harding, ein britischer Luftfahrtunternehmer und Milliardär, sowie Shahzada Dawood, ein pakistanisch-britischer Geschäftsmann und sein neunzehnjähriger Sohn Suleman Dawood, der auf der Expedition einen neuen, bereits bei Guiness angemeldeten Weltrekord mit Rubik’s Zauberwürfel aufstellen wollte; seine bisherige Bestleistung betrug zwölf Sekunden.

Attraktive Katastrophen

Die naheliegende Frage wurde dagegen kaum gestellt: Was suchten die fünf Passagiere des Tauchboots eigentlich beim Wrack der Titanic, nachdem sie bereits so viele Expeditionen absolviert, Filmaufnahmen, Reportagen und Dokumentationen gesehen hatten?

Offenkundig sind Katastrophenorte außerordentlich attraktiv, sie ziehen zahlreiche Besuche an und werden sogar in Reiseführern verzeichnet. In den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich der internationale Tourismus als Massengeschäft etabliert, mit einem Aufkommen von rund 1,4 Milliarden Reiseankünften im Jahr 2019 (inzwischen wieder – so die Zahlen von 2022 – nahezu einer Milliarde) und einem globalen Umsatz von 1.340 Milliarden US-Dollar; im Vergleich dazu wirken die UNHCR-Statistiken über Flucht, erzwungene Mobilität und Vertreibung (Ende 2018 70,8 Millionen) geradezu niedrig.

Ferien in der Hölle

Im Schatten touristischer Vermarktung prominenter Reiseziele wurde inzwischen ein Geschäftsfeld aufgebaut, das häufig als „Dark Tourism“ bezeichnet wird: organisierte Fahrten zu Orten des Schreckens, gleichsam für „Reklamefahrten zur Hölle“ oder „Holidays in Hell“.

Im Epilog ihrer erschütternden „Chronik der Zukunft“ schildert Swetlana Alexijewitsch, Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2015, ein weiteres markantes Beispiel: „Ein Kiewer Reisebüro bietet Touristenreisen nach Tschernobyl an … Die Route beginnt mit der toten Stadt Pripjat: Die Touristen besichtigen verlassene mehrstöckige Häuser mit Kinderwagen und schwarz gewordener Wäsche auf den Balkonen. […] Höhepunkt der Reise ist die Besichtigung des Objekts ‚Decke‘ oder einfacher – des Sarkophags. Hastig errichtet über dem explodierten vierten Reaktorblock, ist er seit langem von Rissen durchzogen, durch die seine tödliche Füllung strahlt – die Reste von Atombrennstoff. Da kann man seinen Freunden etwas erzählen, wenn man nach Hause kommt. Das ist etwas anderes als eine Reise auf die Kanaren oder nach Miami!“

Urlaubsreisen in die Hölle: Welche Antworten suchen die Black-Spot-Reisenden, auf den Touren zu Orten der Kriege, Völkermorde, Atomunfälle oder Suizide, Vulkantourismus, Erdbeben- oder Überschwemmungstourismus wie unlängst in Norddeutschland, als sich die erschöpften Einsatzkräfte über zahlreiche Behinderungen durch „Hochwassertouristen“ und Kitesurfer beklagten.

Filme über Katastrophen

So viele Filme wurden über diverse Katastrophenorte gedreht, so viele Romane und Reportagen geschrieben. Im Jahr 1977 machte sich Werner Herzog mit einer kleinen Crew auf den Weg zur Insel Guadeloupe und in eine evakuierte Stadt beim Vulkan „La Grande Soufrière“, dessen Ausbruch unmittelbar bevorzustehen schien. Herzog hatte gehört, dass sich ein indigener Bauer der Evakuierung widersetzt habe; er wollte ein Gespräch mit ihm dokumentieren. Der Bauer bekannte, er vertraue auf Gottes Entscheidung und sang ein Lied.

Die Exkursion führte zu dem halbstündigen Dokumentarfilm „La Soufrière – Warten auf eine unausweichliche Katastrophe“; zuletzt blieb die Katastrophe allerdings aus. „Whenever I travel, it’s always to say goodbye“, schreibt Susan Sontag in ihrem dialogischen Essay „Unguided Tour“ von 1977 (The New Yorker. 31. Oktober 1977). Und sie schließt mit den paradoxen Sätzen: “The end of the world. This is not the end of the world."