Künstlerische Darstellung von DNA
©ktsdesign – stock.adobe.com
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Völkerwanderungen

Wer kam, wer blieb in Europa?

Vor 1.500 Jahren erlebten die Europäer eine politisch und gesellschaftlich turbulente Zeit. Archäologen, Biologinnen und Historiker schauen nun mit Hilfe genetischer Daten in die Vergangenheit.

Im Rahmen von HistoGenes, so der Name des Forschungsprojektes, möchten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die DNA von rund 6.000 Individuen untersuchen, die zwischen 400 und 900 nach Christus in Ost- und Mitteleuropa gelebt haben und deren Überreste bei verschiedenen Ausgrabungen gefunden wurden. Abgeglichen werden die genetischen Funde dann mit historischen Quellen und mit archäologischen Grabungsfunden. HistoGenes ist mit einem Synergy Grant des European Research Council (ERC) finanziert und mit zehn Millionen Euro dotiert.

Viele Wanderungen

Im Karpatenbecken, also zwischen Wien und Belgrad, gab es zu jener Zeit auffällig viele Wanderungsbewegungen, meint der Historiker Walter Pohl, Direktor des Instituts für Mittelalterforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Projektkoordinator. An der Universität Wien untersucht er die historischen Quellen aus jener Zeit.

An der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist ein Teil der Archäologen angesiedelt, die an HistoGenes mitwirken. Weitere wissenschaftliche Teams kommen vom Max Planck Institut für Menschheitsgeschichte in Jena, vom Institute for Advances Studies in Princeton und von der Universität Budapest.

Kaum genetische Unterschiede

Genetiker und Genetikerinnen werden immer besser darin, alte DNA zu analysieren. „Da wir mittlerweile das gesamte menschliche Genom sequenzieren können, ist es leichter geworden, hier tatsächlich feinste Unterschiede zwischen den Menschen zu finden. Auch, wenn sie sich sonst in ganz Europa schon damals sehr ähnlich gewesen sind“, betont Walter Pohl. Schon vor 2.000 Jahren betrug der genetische Unterschied zwischen Menschen weniger als 0,001 Prozent.

Diese Information kann für die Wissenschaftler trotzdem relevant sein – nämlich um herauszufinden, welche der Zuwanderer geblieben sind und wer beispielsweise ins Herrschergeschlecht aufgestiegen ist. „Wir möchten wissen, ob in dieser Zeit tatsächlich die Bevölkerung sich grundlegend gewandelt hat, oder ob diese Zuwanderer gekommen und wieder gegangen sind“, so Walter Pohl.

Gräberfunde und Genetik

Historische Quellen von damals erzählen von vielen Völkern, die in dieser Zeit in der Gegend lebten – oder nur hindurchgezogen sind. Ein Beispiel neben vielen anderen wären die Awaren, die im 6. Jahrhundert aus Zentralasien kamen, aber auch die Hunnen, Goten oder Langobarden werden in den alten Schriften erwähnt.

Aus der Zeit zwischen 400 bis 900 nach Christus stammen auch viele Gräberfunde. Archäologen versuchen nun, den Skeletten ein kulturelles Profil zuzuordnen, also zu bestimmen, aus welchen Regionen sie abstammen könnten undwieweit sie sich vermischt haben. Mittels Isotopenanalyse kann man herausfinden, ob jemand zugewandert oder auf dem Gebiet geboren wurde, wo er oder sie beerdigt ist. Auch die Art und Weise des Zusammenlebens und der kulturellen Praktiken vor 1.500 Jahren soll näher erforscht werden.

Antirassistische Forschung

Generell geht es den Forscherinnen und Forschern auch darum, den gegenwärtig mancherorts wieder aufkommenden nationalistisch-rassistischen Tendenzen etwas entgegenzusetzen. Dass sich Völker in der Vergangenheit immer wieder neu zusammengesetzt haben und sich zwar kulturell abzugrenzen, aber nicht anhand sogenannter „rassischer“ oder genetischer Merkmale voneinander unterscheidbar sind, sei wissenschaftlich erwiesen, aber im öffentlichen Bewusstsein nicht wirklich verankert, sagt Walter Pohl: „Dabei würde ein Blick ins Wiener Telefonbuch genügen.“

Pohl möchte mit dem Projekt dazu beitragen, im öffentlichen Bewusstsein sichtbar zu machen, dass Zugehörigkeit zu einem Volk nicht biologisch determiniert, sondern vielmehr historisch und kulturell gewachsen ist.