Eine Mitarbeiterin mit Schutzmaske bedient eine Kundin in einem LebensmittelgeschŠft in Wien.
APA/HELMUT FOHRINGER
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Krise offenbart Versäumnisse bei Integration

Menschen mit Migrationshintergrund haben in Österreich einen schlechteren Zugang zum Gesundheitssystem. Dafür verantwortlich sind Versäumnisse in der Integrationspolitik, die wegen der Coronavirus-Pandemie die gesamte Gesellschaft treffen.

War es im Herkunftsland schwierig oder teuer, eine Fachärztin oder einen Facharzt aufzusuchen, dann nehmen viele diese Erfahrung nach Österreich mit. Kulturelle und sprachliche Barrieren führen auch hier dazu, dass sie eher nicht in eine Ordination gehen und darauf warten, dass die Beschwerden von allein verschwinden. Im Allgemeinen lasse sich beobachten, dass Menschen mit Migrationshintergrund im Gesundheitssystem schlechter versorgt würden, sagt die Kulturwissenschaftlerin Judith Kohlenberger, die an der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien zu Fragen der Sozialpolitik und Integration forscht.

Weniger Bildung, schlechtere Versorgung

Die Ursache dafür sei nicht etwa Ablehnung durch das Gesundheitspersonal oder direkte Diskriminierung, oft handle es sich vielmehr um strukturelle Gründe, meint Kohlenberger. „Weil man sich zum Beispiel sprachlich nicht so gut ausdrücken kann oder weil man aus einer bildungsferneren und sozioökonomisch schwächeren Schicht stammt“, so die Kulturwissenschaftlerin. Hier beobachte man in Österreich einen starken Zusammenhang.

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Dem Thema widmen sich auch die Journale, am 29.4., um 12.00 Uhr.

Nicht nur in Österreich – in ganz Europa nehmen Menschen mit Migrationshintergrund Gesundheitsdienstleistungen weniger oft in Anspruch. Entsprechende Daten liefert die repräsentative Gesundheitsbefragung des Gesundheitsministeriums, die europäischen Leitlinien folgt und alle fünf Jahre stattfindet. Als Beispiel nennt Kohlenberger etwa eine Erhebung zu Zahnarztbesuchen: Während 80 Prozent der Österreicherinnen und Österreich mindestens einmal im Jahr zum Zahnarzt gehen, sind es unter Geflüchteten nur knapp 25 Prozent.

Coronavirus-Pandemie verschärft Situation

Weil Informationen zur medizinischen Grundversorgung fehlen, suchen viele Menschen mit Migrationshintergrund letztlich Spitalsambulanzen auf. Das wolle man in Pandemiezeiten eigentlich unbedingt vermeiden, sagt Kohlenberger. „Gerade in der jetzigen Zeit, wo man die Ausbreitung des SARS-Coronavirus-2 verhindern will, möchte man natürlich tunlichst vermeiden, dass Menschen als Erstes eine Krankenhausambulanz aufsuchen, bevor sie sich telefonisch an einen Arzt wenden“, so Kohlenberger weiter.

Auch die Gesundheitshotline 1450 sei nicht niederschwellig genug, führt die Kulturwissenschaftlerin an. Man weiß bereits seit Längerem, dass sie von Menschen mit Migrationshintergrund kaum genützt wird, weil auch hier Informationen über fremdsprachige Angebote fehlen. Auch das verdeutliche die Versäumnisse, sagt Kohlenberger. Wenn sich Menschen mit Covid-19-Symptomen nicht testen lassen, weil ihnen die notwendigen Informationen fehlen, gefährde das nicht nur die Betroffenen, sondern die gesamte Gesellschaft.

Oft in Schlüsselsektoren tätig

Die Maßnahmen, die eine Ausbreitung des Coronavirus verhindern sollen, wirken nur dann, wenn sich alle daran halten. Doch dafür müssen auch alle die Maßnahmen verstehen, die von der Regierung verordnet wurden. Entsprechende Informationsblätter wurden erst mit Verspätung in anderen Sprachen, wie Englisch, Bosnisch-Kroatisch-Serbisch oder Türkisch, veröffentlicht. „Das zeigt auch ganz deutlich, dass Österreich noch kein Selbstverständnis als Einwanderungsland entwickelt hat“, so Kohlenberger. Anders als Länder wie Kanada, die alle Informationen zum SARS-Coronavirus-2 und Covid-19 zeitgleich in verschiedenen Sprachen veröffentlichten.

Ad-hoc-Maßnahmen könnten solche Versäumnisse nicht vollständig abfedern. Das zeige sich derzeit auch in Bezug auf die Schulschließungen. Denn in migrantischen Familien fehlt es an Unterstützung für die jungen Schülerinnen und Schüler. Gleichzeitig sind viele Menschen mit Migrationshintergrund derzeit stark gefordert: Sie stellen einen großen Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Schlüsselsektoren wie der Pflege, dem Lebensmittelhandel und der Reinigung. Sie haben derzeit ein höheres Infektionsrisiko als viele andere Bevölkerungsgruppen.