Mitarbeiter des Amazon-Logistikzentrums in Koblenz
APA/dpa/Thomas Frey
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Ökonomie

Die Krise als Chance für die Arbeitswelt

4.000 Forschende weltweit haben ein Manifest unterzeichnet, das zu einer Neugestaltung der Arbeitswelt aufruft: Arbeit soll demokratischer geregelt und Arbeitende nicht länger als Ressource betrachtet werden – die Krise biete die Chance dafür.

Die Coronavirus-Pandemie macht die gegenwärtigen Probleme der Arbeitswelt besonders deutlich: Weltweit zeichnet sich eine extrem hohe Arbeitslosigkeit ab, es gibt viele unsichere Jobs, Scheinselbstständige sowie prekär Beschäftigte, und jene Arbeitsplätze, die derzeit als „systemrelevant“ erkannt werden, sind vielfach schlecht entlohnt und genießen wenig soziale Anerkennung.

Menschen sind keine Ressource

Auf diese Fehlentwicklungen wollen Sozialforscherinnen und -forscher wie Thomas Piketty, Eva Illouz oder Chantal Mouffe in dem Manifest mit dem Titel „Democratizing Work“ aufmerksam machen, das bereits in der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ und der französischen Tageszeitung „Le Monde“ erschienen ist. „Arbeit: Demokratisieren, dekommodifizieren, nachhaltig gestalten“ ist der Leitsatz, der dem Aufruf vorangestellt ist.

Arbeitende Menschen sind nicht nur eine Ressource unter vielen, wie das der Fachbegriff der „Human Resources“ impliziere, heißt es in dem Manifest. „Ohne diejenigen, die ihre Arbeitskraft investieren, gäbe es keine Produktion und keine Dienstleistungen“, heißt es weiter im Text. Das sei eine der zentralen Lehren aus der gegenwärtigen Krise, wie die Soziologin Brigitte Aulenbacher von der Universität Linz betont, die das Manifest ebenfalls unterzeichnet hat.

Heraus aus dem Schattendasein

„Es wird jetzt plötzlich sichtbar, dass wir viele Bereiche haben, die für das alltägliche Leben, für die Existenz der Menschen unverzichtbar sind, die aber üblicherweise ein Schattendasein führen“, so Aulenbacher gegenüber science.ORF.at. Das sind beispielsweise die Pflege von Kranken und alten Menschen, das Bestücken von Supermarktregalen oder das Sortieren von Briefen und Paketen. Der Rest der Gesellschaft sei von dieser Arbeit abhängig, die Wertschätzung und Entlohnung dieser Berufe seien allerdings gering.

Scheinselbstständigkeit, Plattformökonomie oder Gig-Economy seien Begriffe, die die vielen unsicheren Arbeitsverhältnisse beschreiben, die in den vergangenen Jahren entstanden sind, sagt der Soziologe Jörg Flecker von der Universität Wien, der sich dem Aufruf ebenfalls angeschlossen hat. „Wenn jemand jede Arbeit annehmen muss, weil er oder sie keine Arbeitslosenversicherung oder nicht den passenden Aufenthaltsstatus im Land hat, dann kann das bedeuten, dass Leute, die keine Krankenversicherung haben oder Angst haben gekündigt zu werden, auch dann arbeiten gehen, wenn sie krank sind“, so Flecker. Solche Zwangslage dürfe es eigentlich nicht geben.

Mitarbeiterin des Amazon-Logistikzentrums in Koblenz
APA/dpa/Thomas Frey

Mehr Demokratie in der Arbeitswelt

Das Manifest fordert mehr Mitspracherechte für die Arbeiterinnen und Arbeiter in ihren Unternehmen und Organisationen. Denn sie investieren Zeit, Engagement und Gesundheit. „Sie sollten mindestens so viel mitzureden haben über den Betrieb und über Entscheidungen, wie diejenigen, die ihr Kapital in dieses Unternehmen investiert haben“, so Flecker. Der Soziologe bezieht sich dabei auf seinen bereits verstorbenen Fachkollegen Ulrich Beck. Der sprach von einer „halbierten Demokratie“: Die Demokratie ende am Fabriktor oder am Eingang zum Bürogebäude, echte Mitsprache gebe es am Arbeitsplatz nicht.

Das solle sich zukünftig ändern, bereits bestehende Rechte sollen laut Manifest ausgebaut werden. Vertretungsorgane, wie Betriebsräte, sollen den Entscheidungen von Aktionärinnen und Aktionären und den von ihnen ernannten Führungsriegen nicht untergeordnet, sondern daran beteiligt werden. „Diesen Arbeitnehmervertretungen sollten vergleichbare Rechte eingeräumt werden wie den Aufsichtsräten“, fordern die Unterzeichnenden.

Unterstützung für Strategiewechsel

Die Coronavirus-Pandemie habe gezeigt, dass Privatisierungen und Sparprogramme im Gesundheits- und Pflegebereich schwerwiegende Folgen haben können, ergänzt Aulenbacher. „Genauso wie der Klimawandel gezeigt hat, dass wir an den ökologischen Grenzen angekommen sind“, sagt Aulenbacher. Diese Krise mache also deutlich, dass ein Umdenken notwendig sei, und darin liege im Grund die Chance für die Gesellschaft, ist die Soziologin überzeugt. Zu den Lösungen, die das Manifest vorschlägt, gehört eine Arbeitsplatzgarantie: Allen, die arbeiten wollen, soll ein Arbeitsplatz im öffentlichen Bereich angeboten werden, der sozial und ökologisch nachhaltig ist.

Und die Regierungen sollen ihre finanzielle Unterstützung für Privatunternehmen an soziale und ökologische Bedingungen knüpfen und damit einen Strategiewechsel einleiten. „Ein erfolgreicher Übergang von der Umweltzerstörung zur Umweltsanierung und -erneuerung wird am ehesten von demokratisch regierten Unternehmen ausgehen, in denen die Stimmen derjenigen, die ihre Arbeitskraft investieren, bei strategischen Entscheidungen das gleiche Gewicht haben wie die derjenigen, die ihr Kapital investieren“, so die Forderung der mehr als 4.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.