Hibakusha, Opfer der Atombombe auf Strohmatte
NARA / Public Domain
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Zeitgeschichte

Atombombenopfer als Forschungsobjekte

75 Jahre sind seit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 vergangen. Fast genau solange werden die Folgen radioaktiver Strahlung auf die Überlebenden und deren Nachkommen untersucht. Die Opfer wurden zu Forschungsmaterial.

Schätzungsweise 100.000 Tote in Hiroshima, etwa 70.000 in Nagasaki – die Opferzahlen können nur geschätzt werden, denn aufgrund des Feuers und der enormen Hitzeentwicklung im und nahe dem Hypozentrum waren die Menschen bis zur Unkenntlichkeit verbrannt oder hatten sich völlig aufgelöst. Andere waren auf der Suche nach Wasser ins Meer gespült worden. Zu denen, die sofort starben, kamen in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren Zigtausende weitere hinzu, die an den (Langzeit)-folgen der Radioaktivität starben.

Forschung von Beginn, aber keine Hilfe

1946 wurde in Hiroshima auf Anordnung von US-Präsident Harry Truman die Atomic Bombs Casualty Commission (ABCC), gegründet. Ziel war die Durchführung einer Langzeitstudie über die medizinischen und biologischen Auswirkungen ionisierender Strahlen auf die Überlebenden der Atombomben. 1950 beginnen die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen an 120.000 Menschen die Untersuchungen für ihre bis heute laufende Langzeitstudie.

Medizinische Hilfe für die Opfer gab es nicht. „Wir hätten mehr tun und Leben retten können!“, räumt William Schull in der Universum History Doku „Das Inferno von Hiroshima“ ein. Doch Hilfe wäre einem Schuldeingeständnis gleichgekommen und hätte die Veteranenverbände in den USA auf den Plan gerufen. So gibt es bis heute auch keine Entschuldigung der USA für den Einsatz der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.

Viele hibakusha, Atombombenopfer, und ihre Verbände haben die ABCC und ihre Nachfolgeinstitution Radiation Effects Research Foundation (RERF) kritisiert. Man sei Versuchskaninchen gewesen, so der Tenor. Scharfe Kritik übte auch der österreichische Zukunftsforscher, Publizist und Träger des alternativen Nobelpreises, Right Livelihood Award, Robert Jungk.

Programmhinweise:

Im Vorwort zu John Herseys Buch „Hiroshima“ schreibt er 2005: „Besonders bedenklich ist, dass die von den Amerikanern in Hiroshima eingerichtete Klinik zur Untersuchung von atomaren Schäden, die ABCC … als eine seriöse wissenschaftliche Institution gilt, deren Veröffentlichungen den Maßstäben kritischer und selbstkritischer Forschung gerecht würden.“ In Wahrheit sei es ihr Auftrag, die tatsächlichen Folgen des Atomkriegs und die Gefahren der Atomenergie zu verschleiern, so Robert Jungk.

Kategorisierung der Opfer

Für die Studien wurden die Opfer genau kategorisiert. Unterschieden wurde zwischen zwei Arten der Strahlenexposition. Eine Kategorie waren jene, die der direkt bei der Explosion der Bombe freigesetzten Strahlung ausgesetzt waren, zumeist Gammastrahlen und Neutronen. Die Dosis der Verstrahlung hängt dabei von Faktoren wie der Entfernung vom Hypozentrum, dem etwaigen Schutz durch ein Gebäude sowie der Position des Körpers ab. Auf Basis dieser Faktoren können für jedes Atombombenopfer individuelle Schätzungen über die aufgenommene Energiedosis angestellt werden.

Bei der zweiten Kategorie handelte es sich um Opfer, die aus den radioaktiv verseuchten Materialien, die nach der nuklearen Explosion in der Umgebung blieben, Reststrahlung aufgenommen hatten, oder die in den nuklearen Fallout geraten waren. In Hiroshima war das der „schwarze Regen“. Die radioaktive Wolke, die nach dem Bombenabwurf aufgestiegen war, hatte Asche und Staub aufgenommen und sich schwarz abgeregnet.

Nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima
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Nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima

Die Untersuchung von Babys und Kindern

Eine der ersten und wichtigsten Studien war eine genetische Studie, für die die Kinder von Überlebenden untersucht wurden, erinnert sich William Schull, ehemaliger Direktor der ABCC: „Täglich fuhren unsere Jeeps durch die Stadt und brachten Untersuchungsteams in jedes Haus, in dem kürzlich ein Kind geboren worden war.“ Der Fokus lag auf den möglichen Langzeitfolgen ionisierender Strahlung auf schwangere Frauen und ihre ungeborenen Kinder.

Die Studie ergab keine Hinweise auf genetische Schäden, allerdings wurden Kinder, die während des Atombombenabwurfs im Mutterleib waren, häufiger mit Mikrozephalie (zu kleinem Kopf) und geistiger Behinderung geboren. Es folgten Studien über Wachstum und Entwicklung sowie erste Untersuchungen der Kinder, die im Mutterleib der Strahlung ausgesetzt waren. William Schull hat u. a. über die Folgen radioaktiver Exposition auf Schwangerschaftsunterbrechungen publiziert.

Reihe von Langzeitschäden

„Ionisierende Strahlung kann fast jede Art von Krebs auslösen“, bringt es Schull auf den Punkt. Die Nachfolgeorganisation der ABCC, die Radiation Effects Research Foundation (RERF) listet auf ihrer Website folgende Erkenntnisse der bisherigen Forschungen auf:

  • Atombombenopfer haben eine höhere Krebsrate bei bestimmten Organen.
  • Überlebende, die einer hohen Strahlendosis ausgesetzt waren, entwickeln häufiger Krankheiten wie gutartigen Schilddrüsen-Tumor, Herzerkrankungen oder Schlaganfall.
  • Überlebende, die einer hohen Strahlendosis ausgesetzt waren, tendieren zu einer Verschlechterung des Immunsystems, ähnlich wie beim Alterungsprozess.
  • Viele Überlebende, die einer hohen Strahlendosis ausgesetzt waren, zeigen Entzündungsreaktionen.
  • Bei den Kindern von Atombombenopfern haben sich bisher keine genetischen Auswirkungen gezeigt.
  • Bisherige Beobachtungen haben keine erhöhte Sterblichkeit oder einen Anstieg der Krebsrate unter den Kindern von Atombombenopfern gezeigt.
Japanischer Soldat in der Atomwüste
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Japanischer Soldat in der Atomwüste

Forschung noch nicht zu Ende

75 Jahre nach den Atombombenabwürfen sind die Überlebenden mindestens 75 Jahre alt. 70 Prozent der ursprünglichen Teilnehmenden an der Lebensspannenstudie sind bereits gestorben. Die anderen rund 36.000 werden weiterhin für die epidemiologischen Daten über Gesundheitsstatus und Sterblichkeit untersucht. Labor-basierte Forschungen werden am RERF auf den Gebieten der Strahlenbiologie, Immunologie, Molekularepidemiologie und Genetik durchgeführt. Am RERF sind in flüssigem Stickstoff Blutproben und biologische Proben von tausenden Menschen aufbewahrt, die künftig einer Genomanalyse unterzogen werden sollen.

Die Forschungen und Analysen der ABCC und ihrer Nachfolgeorganisation RERF sind die wissenschaftliche Basis für die Einschätzung des Strahlenrisikos. Darauf beruhen auch die weltweiten Standards zum Schutz vor radioaktiver Strahlung. Was wir also heute über die Folgen radioaktiver Strahlung wissen, „verdanken“ wir in hohem Maße der Untersuchung der Atombombenopfer von Hiroshima und Nagasaki.