Künstlerische Darstellung: Atomare Kristallstruktur
Peter Jurik – stock.adobe.com
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Experiment

Die Zeit als Kristall

Vor acht Jahren sagte der Physik-Nobelpreisträger Frank Wilczek die Existenz von Zeitkristallen voraus. Diesen seltsamen Materiezustand haben Wissenschaftler jetzt im Labor hergestellt – und die Grundlage für eine neue Technologie geschaffen.

Kochsalz, Eis und Zucker haben eines gemeinsam: Ihre Bauteile sind so angeordnet, dass sie ein periodisches Muster im Raum bilden. Und weil diese Eigenschaft zunächst am gefrorenen Wasser entdeckt wurde – „krýstallos“ bedeutet auf Deutsch Frost oder Eis – wurde daraus ein Kategorienbegriff für alle möglichen Substanzen oder Stoffe. Wobei man heutzutage gar nicht mehr so sicher sein kann, ob das Stoffliche für diese Kategorie überhaupt entscheidend ist.

Autonome Uhren

Urheber dieser Verwirrung ist der theoretische Physiker Frank Wilczek: Er schlug im Jahr 2012 vor, den Kristallbegriff auf die zeitliche Dimension auszuweiten. Ein Kristall in der Zeit – was soll das ein? „Ich gebe zu, als ich das erste Mal davon gehört habe, war ich skeptisch. Das klang das für mich nach Doctor Who oder irgendeiner anderen Science-Fiction-Serie“, sagt Samuli Autti. Der Sinneswandel, so erzählt der finnische Physiker, trat erst vor zwei Jahren ein, als er Wliczek bei einem Kongress in Polen zuhörte. Und zu dem Schluss kam, dass die Zeitkristalle doch mehr sind als bloß eine theoretische Spielerei.

Der Grundgedanke geht so: Wenn die Periodizität des Kristalls auch in der Zeitdimension existiert, dann handelt es sich bei diesem Ding um eine Art Uhr, die regelmäßig schwingt oder oszilliert. Mit Hilfe äußerer Einflüsse wäre es eine einfache Übung, so etwas herzustellen. Jeder Piezokristall in Armbanduhren lässt sich durch Strom zum Schwingen anregen, doch der Zeitkristall braucht das eben nicht, er tut es von selbst. „Das ist der entscheidende Punkt“, sagt Autti. „Wir müssen den Zeitkristallen nicht zeigen, wie sie ticken sollen.“

Quantenwolken tauschen Teilchen

Dass es so etwas in bestimmten Quantenzuständen der Materie tatsächlich gibt, haben in den letzten Jahren schon einige Forschergruppen nachgewiesen. Autti setzt dem in seiner letzten Studie nun die Einsicht hinzu: Damit ist diese Art von Experimenten noch lange nicht ausgereizt, man kann Zeitkristalle auch manipulieren, sie sind viel stabiler als herkömmliche Quantensysteme und wären somit auch gute Kandidaten für technologische Anwendungen.

Wie der finnische Physiker im Fachblatt „Nature Materials“ berichtet, benutzte er für seinen Versuch das Helium-3-Isotop („im Grunde das gleiche Zeug, wie Sie es auch in Luftballons finden, nur dass in diesem Fall ein Neutron fehlt“), kühlte die Teilchen bis 0,0001 Kelvin, also fast bis zum absoluten Nullpunkt ab – und beobachtete dann das von Wilczek vorhergesagte Verhalten: Die Heliumwolken begannen ohne äußeres Zutun zu oszillieren.

Labor: Kryostat an der Aalto-Universität
Aalto University/Mikko Raskinen
Der Versuchsaufbau

Noch interessanter wurde es, als Autti und sein Team zwei Heliumwolken in diesen Grundzustand versetzte. Dann begannen die Wolken Teilchen auszutauschen, „Josephson-Effekt“ heißt dieses von Supraleitern bekannte Phänomen, und zwar wieder in einem ganz bestimmten Rhythmus. Diese Eigenschaft weckt die Hoffnung, dass Zeitkristalle dereinst auch in Quantencomputern oder Atomuhren zum Einsatz kommen könnten. Auch deshalb, weil diese Art von Experimenten nicht notwendigerweise nahe dem absoluten Nullpunkt stattfinden müsste.

Wärmestabile Quantensysteme gibt es, trotz aller Fortschritte in diesem Bereich, bisher kaum. Doch genau das wäre notwendig, um die Quanteninformatik und verwandte Technologien auch für alltägliche Anwendungen fit zu machen. Die Zeitkristalle könnten diesen Schritt ermöglichen, sagt Autti: „Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Aber ich denke, solche Versuche sollten auch bei Zimmertemperatur möglich sein.“