Bronzestatue von Jean Paul Sartre
AFP – PETRAS MALUKAS
AFP – PETRAS MALUKAS
Philosophie

„Der Mensch ist das, wozu er sich macht“

Die Philosophie Friedrich Nietzsches und der französische Existenzialismus haben mehr gemeinsam, als man zunächst einmal glaubt. In beiden Philosophien steht das Individuum im Mittelpunkt – und in beiden geht es darum, etwas aus dem zu machen, was man an sich selbst und in der Welt vorfindet.

Friedrich Nietzsche nimmt im französischen Existenzialismus auf den ersten Blick keinen wesentlichen Stellenwert ein. In den Werken von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir finden sich wenig Hinweise auf Nietzsche. Auch Albert Camus hielt kritische Distanz zu ihm. Auf einen zweiten, genaueren Blick lassen sich Gemeinsamkeiten in den Denkentwürfen entdecken. Sie bestehen darin, sich aus dem Kontext metaphysischer, religiöser oder ideologischer Systeme zu lösen, die die Offenheit der menschlichen Existenz eingrenzen oder vorschreiben, wie man leben soll.

Nietzsche und die französischen Existenzialisten plädieren für eine Neubestimmung der menschlichen Existenz. Das Individuum verlässt die Zone des „Man“, die Martin Heidegger als „erdrückende Macht des Alltäglichen“ beschrieben hat, die alles Exzeptionelle nivelliert. Jean-Paul Sartre bezeichnete die Sphäre des „Man“ als Faktizität, die es zu überschreiten gilt.

Essenz und Existenz

In dem 1946 publizierten Werk „Der Existenzialismus ist ein Humanismus“ betonte Sartre, dass es keine allgemeine Bestimmung, keine Essenz gebe, von der sich der konkrete Mensch ableiten lässt. Er nahm eine Umwertung der beiden Begriffe „Essenz“ und „Existenz“ vor. In der philosophischen Tradition war die Essenz dominierend; sie trat in Gestalt der Ewigkeit, der Substanz, der Idee des Guten oder als absoluter Geist auf. Die „Existenz“ – das konkrete Dasein des Menschen musste sich der Essenz unterordnen.

Sendungshinweis

Ö1 Dimensionen: Friedrich Nietzsche und der französische Existenzialismus, 22. September, 19.05 Uhr

Tagung

„Nietzsche und der französische Existenzialismus“ war das Thema eines internationalen Symposions, das von der Nietzsche Gesellschaft und der Sartre Gesellschaft in Naumburg veranstaltet wurde.

Die Existenz wurde mit der Vergänglichkeit, mit dem Zufälligen gleichgesetzt, während die „Essenz“ als ewig gültiges Prinzip fungierte. Sartre lehnte diese Hierarchie ab. Sein Credo lautete: „Die Existenz geht der Essenz voraus.“ Der Mensch muss ohne Auffangnetz der „Essenz“ sein Leben gestalten. „Der Mensch ist das, wozu er sich macht“ – lautet ein weiterer Leitsatz der existenzialistischen Philosophie Sartres.

„Werde, der du bist!“

Und Sartres Leitsatz „Der Mensch ist das, wozu er sich macht“ korrespondiert mit der programmatischen Grundthese Nietzsches „Werde, der du bist!“. Als Altphilologe war Nietzsche dieser Satz, den der griechische Dichter Pindar in der Zweiten Pythischen Ode formulierte, wohl vertraut. Ausgedrückt wird damit das Gefühl, zwar zu leben, aber noch weit entfernt von einem optimalen Leben. In einer Notiz von 1880 schrieb Nietzsche: „Uns selber machen, aus allen Elementen eine Form gestalten ist die Aufgabe!“

Um Nietzsches Aufforderung „Werde der du bist!“ nachzukommen, ist es erforderlich, dass man ständig an sich selbst arbeitet, um dem Leben eine Form zu geben. Diese Formgebung ist ein fortlaufender Prozess. Das Individuum hat die Aufgabe, in einer langwierigen Folge von Experimenten die optimalsten Bedingungen für den eigenen Gesamtorganismus herauszufinden.

In seiner Autobiografie „Ecce Homo“, in der Nietzsche sich sein Leben selbst erzählt, erwähnte er verschiedene Faktoren, die für seine Persönlichkeitsentwicklung wichtig waren. Er entfaltete eine eigene „Lehre von den nächsten Dingen“, die sich auf Küche, Ernährung, auf alkoholische Getränke und Tabakrauchen, auf die Vortrefflichkeit des Wassertrinkens und auf Schädlichkeit von Kaffee oder Tee beziehen.

Mittelmeerisches Denken

Einen wichtigen Stellenwert nahm der jeweilige Aufenthaltsort ein, wobei Nietzsche Landschaften wie die Côte d’Azur oder Ligurien bevorzugte, Die Vorliebe für Landschaften des Mittelmeers teilte Nietzsche mit dem Philosophen und Schriftsteller Albert Camus, in dessen Schriften die Landschaft Nordafrikas und das Mittelmeer präsent sind. Der Essay „Der Mensch in der Revolte“ endet mit einem Aufruf zum „mittelmeerischen Denken“, das er im Gegensatz zur „deutschen Ideologie“ stellt. Im mittelmeerischen Denken sahen Nietzsche und Camus ein Gegenmodell zum einseitigen Rationalismus von Descartes oder Kant.

Ein entscheidender Faktor in dem Prozess „Werde, der du bist!“ ist Nietzsches Wertschätzung des Leibes. In der abendländischen Tradition wurde der Leib meist mit Verachtung behandelt. Als Ideal galt der Mensch, der „enttäuscht von seinen Augen, entfremdet seinen Ohren, entbunden sozusagen von seinem ganzen Leibe“ (Nietzsche) nach Erkenntnis strebt. Nietzsche warf den Verächtern des Leibes vor, die Tatsache zu ignorieren, dass der Leib – als „mächtiger Gebieter und „unbekannter Weiser“ – hinter ihren bewussten Gedanken steht; eine Tatsache, die dem Existenzialisten Camus bewusst ist.

Leiblichkeit bei Camus

Die Leiblichkeit spielte im Leben von Albert Camus eine wesentliche Rolle, und zwar als Krankheit. Mehr als die Hälfte seines Lebens litt Camus unter einer schweren Tuberkulose. Die ständige Bedrohung durch die Krankheit empfand Camus als Belastung, die ihn bewog, sich zeitweilig völlig zurückzuziehen. „Krankheiten sind einsame Abenteuer“, notierte er.

Eine weitere Variante von Nietzsches Motto „Werde, der du bist“ und Sartres These „Der Mensch ist das, wozu er sich macht“ findet sich bei Simone de Beauvoir – der Lebensgefährtin Sartres. Für die Vorkämpferin des Feminismus ging es darum, das traditionelle Rollenverständnis der Frau zu destruieren, um eine unabhängige, selbstbestimmte Existenz zu führen. Mit dem Satz: „Als Frau wird man nicht geboren, zur Frau wird man“ erregte sie in den 50er Jahren großes Aufsehen.

Aufruf zum Optimismus

Trotz der Erfahrung, dass wir in einer Welt, in der es keine festen moralischen Gebote, keine metaphysische Ordnung mehr gibt, die einem sagt, was wir zu tun haben, können die Nietzscheanische Forderung „Werde, der du bist“ und Sartres Postulat, sich selbst zu verwirklichen, dazu beitragen, eine positive Weltsicht zu entfalten.

„Wir haben Spielräume zur Gestaltung, und diese Spielräume können wir nutzen, und da können sowohl die Philosophie Sartres, Camus, Beauvoir als auch die Philosophie Nietzsches vielfältige Anregungen geben“, sagt Andreas Urs Sommer vom Philosophischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Gespräch mit science.ORF.at.