Eine Nonne mit Schutzmaske auf der Mariahilfer Straße
AFP/JOE KLAMAR
AFP/JOE KLAMAR
Pandemie

Was wir über die Krise erzählen werden

Das Jahr 2020 wird als Ausnahmeperiode in die Geschichte eingehen. Doch wie wird das künftige Corona-Narrativ aussehen? Wie Menschen über die Krise sprechen und Intellektuelle die Vorgänge deuten, diskutierten Experten bei einer Konferenz. Von der Erinnerung an eine Phase der großen Umbrüche bis zur Sehnsucht nach einer neuen Gemeinschaftlichkeit scheint alles möglich zu sein.

Im Dezember verbreiteten sich weltweit die ersten Meldungen über ein neuartiges Virus, spätestens im März sprach man von einer Pandemie. In Österreich wurde gehamstert, der erste Lockdown startete und die Arbeitslosigkeit stieg rasant an. Damals waren nicht nur Virologinnen und Epidemiologen gefragt, Prognosen abzugeben, auch Intellektuelle bat man um Einschätzungen zur Krise und wie das Leben „danach“ aussehen werde.

Die Großdeutungen der Krise

Interessanterweise blickte man bei diesen Interpretationen kaum in die Vergangenheit, sagt der Historiker Dirk Rupnow von der Universität Innsbruck, Mitinitiator der Online-Konferenz „Corona-Verstehen“, bei der vergangenen Woche 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer über die Pandemie aus Sicht der Geistes- und Kulturwissenschaften diskutierten.

Die Deutungen der Krise konzentrierten sich viel mehr auf radikale Umwälzung. „Dass wir endgültig in einen totalen Überwachungsstaat übergehen, dass die Globalisierung zu einem Ende kommt, dass eine neue Solidarität auf dem Vormarsch ist oder dass das Ende des Kapitalismus und ein neuer Kommunismus aufkommt, wie es Slavoj Zizek beispielsweise gesagt hat“, so Rupnow. Unterschiedliche, auch völlig gegensätzliche Großdeutungen standen innerhalb kurzer Zeit im Raum. „Und wenn ich das recht sehe, war keine von denen historisch abgefedert“, ergänzt Rupnow.

Suche nach historischen Referenzpunkten

Hätte man zurückgeblickt, hätte man sich fragen müssen, warum ein Ereignis wie die Spanische Grippe im kollektiven Gedächtnis eine so marginale Rolle spiele, sagt Rupnow. Die Pandemie, die zwischen 1918 und 1920 wütete und vermutlich mehr als 50 Millionen Todesopfer forderte, war der gravierendste demographische Einschnitt, den die Welt im 20. Jahrhundert erlebte. „Die Spanische Grippe forderte vermutlich mehr Todesopfer als beide Weltkriege zusammen, dennoch könnten wir heute wenig über die gesellschaftlichen Folgen dieser Pandemie sagen“, so der Historiker.

Spreche man von 1918, könnten alle etwas über die Folgen des Ersten Weltkriegs sagen. „Sei es der Zerfall der Imperien, die neue politische Ordnung, die wirtschaftlichen Probleme der Zwischenkriegszeit, es gibt hier Deutungen, die sehr weit verbreitet sind“, sagt Rupnow. Bei der Spanischen Grippe sei das ganz anders, mit der habe sich jahrzehntelang praktisch niemand beschäftigt. Sie kommt in vielen historischen Darstellungen überhaupt nicht vor, ist in der Kunst oder Literatur als ein großer Einschnitt kaum präsent. Eine Ursache für den geringen Stellenwert im kollektiven Gedächtnis sieht Rupnow in der Art der Krise: Die Pandemie würde beinahe als Naturkatastrophe empfunden, weniger als menschengemachtes Unheil.

Ein Leben wie in der Kindheit

Wie alltägliche Erzählmuster zur Coronavirus-Pandemie aussehen könnten, abseits intellektueller Großdeutungen, untersucht die Ethnografin Silke Meyer von der Universität Innsbruck. Denn Narrative stehen für eine Form der Identitätsstiftung, die erlernt sind und die Wahrnehmung der Menschen beeinflussen. Ein starkes Narrativ sei die Erzählung über die „gute alte Zeit“, sagt Meyer, und die tauche auch im Zusammenhang mit Corona und dem ersten Lockdown auf.

Leere Stephansplatz während der Ausgangsbeschränkungen im März 2020
APA/HELMUT FOHRINGER
Leerer Stephansplatz im Frühling

Die Kulturwissenschaften und die Psychologie erklärten dieses Phänomen mit der Kindheit der Menschen, sagt Meyer. „Die eigene Kindheit wird als überschaubar, als unbeschwert, als frei von Verantwortung erinnert und wird zum repräsentativen Ausschnitt der Vergangenheit“, erklärt Meyer weiter. Das werde auf die gegenwärtigen Lebensumstände übertragen. In ihren Untersuchungen sprach Meyer mit Menschen, die den ersten Lockdown durchaus positiv deuteten. Die ganze Familie versammelte sich daheim, es wurde gemeinsam gebacken und gekocht, es war herrlich ruhig, wenig Verkehr, die Kinder konnten allein Fahrrad fahren auf der Straße. All das verbanden viele mit der eigenen Kindheit, der guten alten Zeit.

Sehnsucht nach der Retropie

„Dann hat man eben dieses Bild einer positiven Vergangenheit, die gekennzeichnet ist durch das Zusammenrücken der Gesellschaft, durch Solidarisierung, durch Gemeinschaftlichkeit, also eine idealisierte Vergangenheit“, sagt Meyer und bezieht sich dabei auf den polnisch-britischen Soziologen Zygmunt Bauman. Er nannte das, abgeleitet vom Begriff Utopie, eine Retropie, eine rückgewandte Idealisierung, die für die Sehnsucht nach Kontinuität und Solidarität steht.

„Bauman beschreibt das als Rückzug ins Innere, der sich dann auch an der Aufwertung des eigenen festmachen lässt“, erklärt Meyer. Dazu gehörten der Nationalstaat, der eine Aufwertung erfahre, das Schließen der Grenzen, die eingeschränkte Mobilität. All das habe man während des ersten Lockdowns gesehen. „Bauman hat ein schönes Bild dafür, dass die Menschen die Sehnsucht nach dem Stammesfeuer ausleben und nicht mehr bereit sind für die Freiheit mit dem Preis der Sicherheit zu bezahlen“, so die Ethnografin weiter.

Corona-Biedermeier oder Revolution?

Dieses Corona-Biedermeier sei ein starkes Erzählmuster, meint Meyer. Doch, wie bei den intellektuellen Deutungen der Krise, finde man auch bei den alltäglichen Narrativen große Gegensätze. Der Verklärung der Vergangenheit steht die Angst vor Kontrolle und die Beschwörung größtmöglicher persönlicher Freiheit gegenüber, dem Wunsch nach Kontinuität die lauten Aufrufe zur Revolution.

Für den Historiker Dirk Rupnow machten auch die Großdeutungen der Krise durch Intellektuelle eher die Wünsche nach Veränderung, nach gesellschaftlichem Umbruch sichtbar, als tatsächlichen Wandel in Folge der Pandemie zu beschreiben. „Es gibt ein Verlangen nach Veränderungen, was aber noch lange nicht heißen muss, dass so eben der Fortgang der Geschichte aussehen wird“, sagt Rupnow. Treffend habe sich Jürgen Habermas zu Beginn der Krise geäußert, meint der Historiker. Habermas sagte, dass im Moment das Auffälligste eigentlich das Nichtwissen ist. Noch müsse man sich von Prognosen fernhalten.