Brienne Truhe mit Briefen
Unlocking History Research Group
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Algorithmus

Verschlossene Briefe werden lesbar

In der Renaissance wurden Briefe oft kunstvoll gefaltet und dann versiegelt. Um sie beim Öffnen nicht zu zerstören, sind manche bis heute unangetastet. Forscher entfalten sie nun virtuell und machen sie so lesbar.

Um den oft vertraulichen Inhalt vor fremden Augen zu schützen, steckt man Briefe in einen Umschlag. Solche Kuverts wurden allerdings erst in den 1830er Jahren zum Massenprodukt. Davor – als Papier noch teuer und knapp war – behalf man sich mit anderen Methoden. Der Brief wurde oft aufwendig und kunstvoll gefaltet und anschließend versiegelt. Für Dritte war es so beinahe unmöglich, den Brief auf seinem Weg zum Empfänger abzufangen und zu öffnen, ohne ihn zu beschädigen, schreiben die Forscherinnen und Forscher um Jana Dambrogio vom Massachusetts Institute of Technology in ihrer soeben im Fachjournal „Nature Communications“ erschienenen Studie.

Aus Angst vor ihrer Zerstörung sind auch manche historischen Briefe bis heute ungeöffnet. Ihr Inhalt bleibt so leider oft ebenfalls verborgen. Mit mikrotomographischen Röntgenmethoden – deren Auflösungsvermögen in einen Bereich von einigen Tausendstel Millimeter reicht – gelingt es zwar heute immer besser, geschlossene Schriftstücke zu durchleuchten und zu lesen. Ist die Faltung allerdings sehr kleinteilig und komplex, scheitert dieser Ansatz mitunter.

Dambrogio und Co. haben daher einen Algorithmus entwickelt, der die Briefe zuerst virtuell entfaltet. Er basiert auf der Auswertung von 250.000 historischen Briefen, bei denen unterschiedlichste Techniken des „Letterlockings“ zum Einsatz kamen. Getestet wurde er dann an einem besonderen Schatz, der Brienne Collection. Die Sammlung enthält Tausende niemals zugestellte Briefe aus einer Truhe, die 1926 im Postmuseum in Den Haag gelandet ist. Sie sind zwischen 1680 und 1706 verschickt worden und stammen aus ganz Europa.

Virtuell entfaltet

Um sie zu entziffern, werden vorerst die gefalteten Papierbündel mikrotomographisch gescannt und virtuelle 3-D-Modelle erstellt. Mit Hilfe des neu entwickelten Algorithmus werden die Papierschichten dann separiert. So lässt sich der Faltungsprozess nachvollziehen und der Brief virtuell entfalten. Das Geschriebene wird sichtbar und wichtige historische Dokumente nun endlich lesbar.

Ungeöffneter Brief DB-1627 in the Brienne Collection,
Sound and Vision The Hague, The Netherlands
Brief an Pierre Le Pers

Tatsächlich ist dies den Forscherinnen und Forschern gelungen, z.B. bei einem Brief, den Jacques Sennacques am 31. Juli 1697 in Lille aufgegeben hat. Adressiert ist das Schriftstück an seinen Cousin Pierre Le Pers in Den Haag. Er bittet darin wohl schon zum zweiten Mal um die Todesurkunde eines Verwandten, wahrscheinlich wegen einer Erbschaftsfrage. Außerdem fragt er nach Neuigkeiten in der Familie und wünscht Gottes Gnade. Wie die Forscher vermuten, war der Empfänger verzogen und deswegen konnte der Brief niemals zugestellt werden. Bisher verborgene alltägliche Korrespondenzen wie diese zeigen unter anderem, wie unsicher die Kommunikationswege im damaligen Europa noch waren, so Dambrogio und Co. Menschen mussten oft von heute auf morgen umziehen und konnten keine neue Anschrift hinterlassen.