Napoleon-Grafitto, davor eine vorüberhuschende Frau
AFP – PASCAL POCHARD-CASABIANCA
AFP – PASCAL POCHARD-CASABIANCA
Napoleon

Held oder Tyrann?

Das Ansehen Napoleons im heutigen Frankreich ist ambivalent, der vor 200 Jahren verstorbene Kaiser polarisiert noch immer. Zum einen gilt er als Missionar der „französischen Aufklärung“, zum anderen als Tyrann. Vorherrschend sei heute aber vor allem Unwissenheit, schreibt der irisch-britische Historiker Christopher Brennan in einem Gastbeitrag.

Ich habe die Schule in Frankreich von der Grundschule bis zur Matura besucht und muss ehrlich zugeben, dass Napoleon und seine Rolle selten erwähnt wurden. Sein Zeitalter blieb problematisch, weil er (zumindest für viele meiner Lehrer, die überwiegend Linke waren) der Totengräber der Revolution war. Die Revolution selbst haben wir einmal bunt und stolz gefeiert, im Jahre 1989, also 200 Jahre nach der Revolution; wir gingen in die Schule als Sansculottes verkleidet, mit Kokarden, mit revolutionären phrygischen Mützen. Aber es war anscheinend zu kompliziert zu erklären, dass die Revolution kurz danach zugrunde ging und die französische Republik erst 100 Jahre später konsolidiert wurde.

Porträtfoto Michael Brennan
privat

Über den Autor

Der irisch-britische Christopher Brennan ist in Frankreich aufgewachsen, studierte an den Universitäten Bristol, Heidelberg und Brünn. Magisterstudium an der Universität Oxford, Promotion an der London School of Economics. Derzeit arbeitet er an einer Biografie über Kaiser Karl I.

In der Schule kam er kaum vor

Daher wurde das ganze 19. Jahrhundert ignoriert und wir sprangen quasi vom Sturm auf die Bastille zum Ersten Weltkrieg, ohne Erstes Reich, ohne Restauration der Bourbonen, ohne Zweites Reich und ohne Krieg gegen Preußen. Wenn die Lehrer sich über Napoleon äußerten, war es, um ihn zu verunglimpfen und ihn mit Hitler zu vergleichen. Ich bin nicht sicher, ob wir eine einzige Unterrichtsstunde über Napoleon hatten. Das war zumindest die Erfahrung meiner Generation in den 1980er und -90er Jahren. (Der Lehrplan in Frankreich ist zentralisiert und daher für alle gleich.)

In den folgenden Jahren wurde Napoleon fast komplett ausradiert und – komischerweise – die Französische Revolution auch. Fast 40 Jahre lang wurde alles thematisch (und nicht chronologisch) unterrichtet, was katastrophale Folgen für die Kenntnisse der Schüler gehabt hat. Die großen Zusammenhänge fehlen, und Schüler und Studenten sind nicht dazu in der Lage, die vermittelten Puzzleteile der Geschichte wieder zusammenzusetzen.

Von seinen Errungenschaften wird allenfalls sein oft gelobter „Code Civil“ erwähnt, der immer noch die Basis des französischen Zivilrechts ist. Insgesamt verbringen die Schüler nur eine einzige Stunde in vier Jahren mit diesem Thema! Seit zwei bis drei Jahren wird das 19. Jahrhundert (inklusive des Ersten Reichs von Napoleon) in der siebenten Klasse unterrichtet. Die Französische Revolution und das Imperium werden zusammen thematisiert. So auch an der Universität: Das lange 19. Jahrhundert wurde verkürzt und beginnt erst 1815 mit Napoleons Niederlage.

Ö1 Sendungshinweis

Weltgeist oder Geißel Gottes? Zum 200. Todestag Napoleon Bonapartes: Salzburger Nachtstudio, 5. Mai 2021, 21 Uhr

Eine Lehrerin meinte kürzlich mir gegenüber, dass Napoleon einfach zu sperrig und spaltend sei. Eine ausgewogene Bilanz seiner Herrschaft sei schwer zu ziehen, besonders wenn die Schüler so wenig Zeit mit dem Thema verbringen. Dieselbe Lehrerin, die seit 35 Jahren Geschichte unterrichtet, hat mir zwar erklärt, dass die Blinkwinkel sich ab und zu geändert haben, aber dass die Zeit, die für Napoleon vorgesehen war, nie zwei oder drei Stunden überschritt. Am Ende der Schulzeit sind die Kenntnisse der Schüler über Leben und Werk dieses Mannes sehr schlecht.

Rassismus und Frauenfeindlichkeit

Natürlich hat sich die Bewertung von Napoleon verändert und tut es noch, und dabei habe ich das Gefühl, dass sein jetziger Ruf wohl schlechter als je zuvor ist. Noch im 19. Jahrhundert wurde er verehrt, fast vergöttert. Sein Neffe Napoleon III hat eifrig an diesem Mythos gearbeitet. Die meisten Statuen und Monumente sind aus dieser Zeit, obwohl es gar nicht so viele davon gibt.

Wenn auch der Großteil davon immer schon bekannt war, hat das Buch von Claude Ribbe, „Le crime de Napoléon “ aus dem Jahr 2005, das eher eine Streitschrift ist, Napoleons Wiederherstellung der Sklaverei in den Kolonien im Jahr 1802 (die während der Revolution abgeschafft worden war) ausführlich dargestellt und angeprangert, dazu die Massaker gegen die Rebellen während des Kriegs in Haiti, der zu einer demütigenden Niederlage Napoleons führte. Seitdem hat Napoleon seinen einstigen Ruf verloren und nie zurückgewonnen.

Napoleon auf dem Totenbette, Gemälde von Jean-Baptiste Mauzaisse (1843)
AFP – THOMAS COEX
Napoleon auf dem Sterbebett, Gemälde von Jean-Baptiste Mauzaisse (1843)

Im gegenwärtigen Klima der „Black Lives Matter“-Bewegung ist das Thema noch aktueller und heikler geworden. Inzwischen wurde vielen auch bewusst, dass Napoleons „Code Civil“ sehr frauenfeindlich war. Er setzte zum Beispiel die rechtliche Unfähigkeit der verheirateten Frau fest. Und da ist noch vieles mehr: Napoleon hat die Pressefreiheit abgeschafft, und – wie alle wissen – sind Hunderttausende Menschen seinetwegen in jahrzehntelangen Kriegen gestorben.

Demgegenüber steht die Habenseite, die finanzielle, administrative und gerichtliche Umstrukturierung Frankreichs, die Schaffung der Banque de France, die Einrichtung der Matura, die offizielle Organisation der jüdischen Konfession in einem Konsistorium, die weitgehende – wenn auch nicht perfekte – Integration der Juden als Bürger; dazu das Konkordat mit der Kirche und einige Friedensverträge mit Nachbarländern.

In der Politik eher lästig

Für junge Leute, das wurde mir von Lehrerinnen und Lehrern bestätigt, hat er heute fast keine Relevanz. Sie wissen viel zu wenig über ihn, selbst die Studenten der Geschichte an den Universitäten.

Viele Franzosen sind zwar noch von ihm fasziniert, aber nur als historische Figur. Manche, vielleicht sogar eine Mehrheit, sind ziemlich stolz darauf, dass einer der größten Männer in der Geschichte Franzose war … und das, obwohl er die französische Sprache nie perfekt beherrschte, weder die Aussprache noch die Rechtschreibung!

In Frankreich ist die Beziehung zwischen Volk und Staatsoberhaupt zweifellos kompliziert. Seit der Ausrufung der Republik 1792 und der Enthauptung des Königs stehen die Franzosen der Herrscherfigur skeptisch und bewundernd zugleich gegenüber. Die Herrscher selbst, egal ob Napoleon III, de Gaulle, Sarkozy oder Macron, lehnen den Vergleich mit Napoleon nicht ab. Er wird aber immer seltener erwähnt – Sarkozy hat ihn zum Beispiel in seiner erfolgreichen Präsidentschaftskampagne 2007 nur fünfmal erwähnt und jüngere Politiker benennen nicht einmal die Revolution, geschweige denn Napoleon.

Für Politiker ist er eher lästig, weil er immer umstrittener wird. Für militante Minderheiten ist er entweder ein Teufel oder ein Held. Von echter Relevanz kann man dennoch nicht sprechen, dazu ist das alles zu lange her. Argumente, nach denen sein Reich eine frühe europäische Union, und er ein Pionier der europäischen Integration gewesen sei, sind nicht überzeugend.

Einzig im französischen Militär wird er noch bewundert, manchmal sogar vergöttert.

Thron von Napoleon im Schloss Fontainebleau
AFP – THOMAS COEX
Thron von Napoleon im Schloss Fontainebleau

Nostalgie, aber kein Kitsch

Es ist nicht zu leugnen, dass es in gewissen Kreisen eine Napoleon-Nostalgie gibt. Kitsch ist sie aber nicht. Es geht dabei um einen großen Franzosen, um den Ruhm von Frankreich, um Zeiten von militärischen Erfolgen und noch dazu um die Verbreitung der Aufklärung in Europa. Viele Franzosen denken immer noch, dass die Aufklärung eine französische Erfindung ist, und dass das Land eine Mission hat, diese Werte zu verbreiten, paradoxerweise eine Art von französischem Universalismus. Diese Anhänger von Napoleon betrachten ihn als den Retter der Revolution und deshalb ist die Debatte „Totengräber oder Retter?“ noch aktuell.

Wie auch immer bleibt Napoleon eine sehr öffentlichkeitswirksame Figur, die immer noch fasziniert. Es gibt keinen Mangel an Büchern, Filmen, Fernsehserien, Museen, Ausstellungen, die immer populär sind, auch wenn der Mann selbst nicht so heldenhaft und makellos erscheint, wie es früher der Fall war.

Keine bedeutende Partei identifiziert sich mit dem Bonapartismus. Trotzdem gibt es kleine Organisationen, die in diese Richtung arbeiten, so gab es zum Beispiel mit David Saforcada einen politischen Bonapartisten bei der letzten Präsidentschaftswahl 2017. Auch in Napoleons Heimatstadt Ajaccio in Korsika sind seine Anhänger noch präsent. Die dortige 1908 gegründete bonapartistische Partei hat sogar einige Mandatsträger. Dazu gibt es das 1937 gegründete „Souvenir napoléonien“ – einen Verein, der das historische Studium der Ära fördert und der noch sehr aktiv ist, und landesweit kämpft der Historiker Thierry Lentz mit seiner „Fondation Napoléon“ geradezu für das Ansehen des „großen Korsen.“

Natürlich gibt es auch historische Reenactments von Schlachten dieser Zeit.

Chirac ließ Niederlage feiern

Für die Regierung Macron sind die 200-Jahrfeiern ein heikles Thema, weil das Gedenken an Napoleons Tod wie gesagt Teil einer politischen Debatte ist. Bei der traditionellen Seelenmesse in den „Invalides“ wird Präsident Macron jedenfalls nicht anwesend sein. Im Gegensatz dazu sind viele lokale Initiativen und Projekte geplant, weil viele Ortschaften irgendeine Verbindung zu Napoleon haben.

Solche Probleme hatte Frankreich schon in den letzten Jahren. 2005, genau 200 Jahre nach dem französischen Sieg bei Austerlitz gegen die Österreicher und die Russen, boykottierten Präsident Jacques Chirac und seine Regierung die Gedenkfeier. Das schien umso merkwürdiger, als die Franzosen zwei Monate zuvor ihren Flugzeugträger – den „Charles de Gaulle“, das Prunkstück der französischen Marine – nach Trafalgar geschickt hatten, um an die dortige französische Niederlage von Oktober 1805 zu erinnern. In diesen Fällen haben die Franzosen politisch korrekt gehandelt, weil die Figur von Napoleon schon gewisse Risse bekommen hatte, besonders eben in Bezug auf die Wiederherstellung der Sklaverei und die Frauenrechte.

Invalidendom in Paris, seit 1840 Grabstätte von Napoleon
AFP – THOMAS COEX
Invalidendom in Paris, seit 1840 Grabstätte von Napoleon(1843)

Kaum Kontroversen 1969 …

Im Gegensatz dazu hatte es im Jahre 1969 bei den 200-Jahrfeiern seiner Geburt keine richtige Kontroverse gegeben, obwohl sie nur ein Jahr nach den Studenten-Ausschreitungen von Mai 68 in Paris stattfanden. Sogar die Kommunisten stimmten im Parlament dem Budget für die großen landesweiten Feierlichkeiten zu. Präsident Georges Pompidou hielt in Ajaccio eine berühmte Rede:

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„So dominiert das Genie Napoleons unsere Geschichte, da es die Zukunft Europas vorwegnimmt. Ihm verdanken wir die meisten Institutionen, die im Laufe der Jahrhunderte und trotz der wesentlichen Veränderungen immer noch das Rückgrat unseres Landes bilden. Er war es, der die Franzosen, die durch die revolutionären Turbulenzen auseinandergerissen und voneinander abgeschnitten wurden, zwang, ihre Spaltungen zu beherrschen und die nationale Einheit wiederaufzubauen.“

Dazu muss man wissen, dass Präsident Charles de Gaulle ursprünglich eine riesige Feier in den „Invalides“ geplant hatte, aber einige Monate davor zurückgetreten war. Vielleicht versuchte der neue Präsident Pompidou dieses klaffende Loch, ohne de Gaulle mit Napoleon aufzufüllen.

… und 1921

Trotzdem gab es schon damals kritische Stimmen. Der dank seiner Rundfunk- und Fernsehbeiträge sehr berühmte Historiker Henri Guillemin versuchte, die Figur von Napoleon zu entmystifizieren – eine gute Idee und vielleicht notwendig, aber etwas schlampig durchgeführt, was Guillemin später auch zugab. Interessant ist die Tatsache, dass er Napoleon Autoritarismus und Kriegslust vorwarf, ganz andere Vorwürfe als heute. In manchen Zeitungen sprach man von einer Überdosis von Napoleon, aber trotzdem blieb die Debatte höflich und wenig kontrovers. Noch galt Napoleon als großer Held und hatte sowohl Links- als auch Rechtsanhänger, die Franzosen waren überwiegend stolz auf ihn.

Schaut man noch weiter zurück, stößt man auf keine Debatten. 1921, 100 Jahre nach seinem Tod, wurde er ganz ohne Widerspruch überall gefeiert. Heute hat das Andenken an Napoleon meistens keinen offiziellen Rahmen mehr, und die Historiker sind gespalten, was meiner Meinung nach durchaus gesund ist. Dass aber das Thema Napoleon 200 Jahre nach seinem Tod offenbar doch noch so viele Leidenschaften weckt, bringt uns nicht weiter. Genau wie bei vielen anderen Aspekten der französischen Vergangenheit haben die Erinnerung die Geschichte und die Emotionen die Analyse ersetzt.