Ein französischer Gelbwesten-Demonstrant mit Anonymus-Maske
AFP – LOIC VENANCE
AFP – LOIC VENANCE
Politikwissenschaft

Spaltung zwischen Stadt und Land wächst

Die politische Kluft zwischen Stadt und Land ist in Europa breit – und wird laut einer neuen Studie zunehmend breiter. Britische Forscher haben dafür Werteinstellungen in 30 Ländern untersucht. Die Spaltung ist in Westeuropa besonders stark – auch in Österreich.

Verglichen mit Bewohnerinnen und Bewohnern innerstädtischer Zentren sind Menschen in den Vorstädten, in kleineren Städten und auf dem Land eher einwanderungskritisch, EU-skeptisch und politisch konservativ. Zudem sind sie unzufriedener mit der Demokratie ihres Landes und misstrauen eher dem politischen System, schreiben Michael Kenny und Davide Luca von der Universität Cambridge in der Studie. Paradoxerweise beteiligen sie sich aber weitaus stärker traditionell an der Politik, sprich: Sie gehen öfters wählen als die Städterinnen und Städter.

Ob das möglicherweise von den Zugangsbedingungen zu Wahlen abhängt – in Wien durften etwa bei den letzten Wahlen rund ein Drittel mangels Staatsbürgerschaft nicht wählen –, sagt die aktuelle Studie nicht. Jedenfalls: Städter und Städterinnen engagieren sich der Studie zufolge politisch eher anders als die Menschen am Land, etwa durch Demonstrationen, das Unterschreiben von Petitionen und den Boykott von Waren. Sie sind generell weltoffener, politisch liberaler und stehen wirtschaftlich besser da.

Paradefall Frankreich

Das Land mit der größten Spaltung ist laut den Politikwissenschaftlern Frankreich – ein „Paradefall neuer räumlicher Ungleichheiten“. Auf der einen Seite stünden globalisierte und gentrifizierte Stadtzentren wie in Paris und Lyon, die zunehmend von bourgeoisen Bohemians („Bobos“) und Kosmopoliten bewohnt werden; auf der anderen Seite die Vorstädte mit ihren erst vor Kurzem zugewanderten Migranten, die kleineren und mittleren Städte sowie die Landregionen, die einen langen wirtschaftlichen Niedergang hinter sich haben und in denen die alte „weiße“ Arbeiterklasse auf vor Längerem zugezogene Migranten trifft.

Ein französischer Gelbwesten-Demonstrant fährt mit dem Rad, im Hintergrund Tränengaswolken
AFP – LOIC VENANCE
Gelbwesten-Demonstration in Frankreich

Eine ähnliche Stadt-Land-Kluft gebe es auch in Großbritannien. Unzufriedenheit mit der Demokratie und Misstrauen gegenüber Parteien und besonders europäischen Institutionen seien auch hier auf dem Land viel stärker verbreitet als in der Stadt. Bestätigt hat sich diese gesellschaftliche Spaltung etwa bei der Brexit-Abstimmung.

Eine Spaltung, die sich durch ganz Europa zieht, wie die beiden Forscher anhand von Daten des European Social Survey festgestellt haben. Darin enthalten sind Umfragen, die zwischen 2002 und 2018 in 30 europäischen Ländern gemacht wurden, darunter auch Österreich. Pro Land wurden dabei zwischen 1.000 und 3.000 Menschen befragt, rund 20 Prozent von ihnen lebten in Städten, zehn Prozent in Vorstädten, 30 Prozent in Dörfern und kleineren Städten, der Rest auf dem Land.

Einige Links-rechts-Gretchenfragen nicht mehr wichtig

Speziell in Westeuropa zeigte sich überall dasselbe Bild: Sich selbst als politisch links oder liberal bezeichnende Menschen wohnen eher in der Stadt, politisch Rechtstehende eher auf dem Land. Bestätigt werden diese Selbsteinschätzungen immer wieder durch konkrete Wahlergebnisse, etwa bei der Nationalratswahl 2019 in Österreich.

Einige traditionelle Gretchenfragen zwischen links und rechts seien allerdings nicht mehr so wichtig, schreiben Kenny und Luca. So gebe es bei der Unterstützung des Wohlfahrtsstaats und beim Vertrauen in die Polizei laut Umfragen kaum Unterschiede zwischen Stadt und Land. Sehr wohl gibt es diese in Sachen Migration: Auf dem Land, wo viel weniger Migranten und Migrantinnen leben, ist die Skepsis viel höher als in den Städten. Ähnlich ist es bei Politik- und Systemverdrossenheit.

Anti-Brexit-Aktivisten in Schottland im Jänner 2020
AFP – ANDY BUCHANAN
Anti-Brexit-Aktivisten in Schottland im Jänner 2020

Kenny und Luca liefern in ihrer Studie keine Zahlen zu einzelnen Ländern, sie haben aber den Unterschied zwischen den „alten“ EU-Ländern und jenen, die mit der Osterweiterung dazukamen, untersucht. In Osteuropa, so der generelle Tenor, sind die Stadt-Land-Unterschiede deutlich weniger ausgeprägt als im Westen, inklusive Österreich.

Gefahr einer „Erosion der Demokratie von innen“

Dass sich Stadt und Land politisch unterscheiden, ist prinzipiell nicht neu. Die Differenz zeigte sich spätestens mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert, nach der die Interessenlage der agrarisch produzierenden Landbevölkerung eine ganz andere war als jene der neuen Kapitalisten und/oder Arbeiter in den Städten. Im 20. Jahrhundert wurde die Spaltung durch neue soziale Konflikte zwischen Letzteren überlagert, seit einigen Jahren hat sie ein Comeback „gefeiert“.

„Sie signalisiert einen neuen geografischen Bruch in Europa, der langfristige Auswirkungen auf den Zusammenhalt der Gesellschaften haben wird“, schreiben Kenny und Luca in einem Blogbeitrag der Universität Cambridge. Die Demokratie- und Politikverdrossenheit auf dem Land berge die Gefahr einer „Erosion der Demokratie von innen“, wie die Politikwissenschaftler schreiben. Denn Menschen, die dem politischen System einerseits misstrauen und andererseits dennoch wählen gehen, sind angezogen von populistischen, „Anti-System-Parteien“.

Nicht nur auf Wirtschaftsentwicklung setzen

Darauf müsse die Politik reagieren – mit einem „ortssensiblen Verständnis“ des Phänomens, wie die Forscher schreiben. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land seien keine festgeschriebene Dichotomie, sondern Abstufungen eines Kontinuums, soll heißen: Noch gibt es keine unüberwindliche Kluft.

Um ein weiteres Auseinanderdriften zu verhindern, solle die Politik nicht rein auf wirtschaftliche Kennzahlen schauen und nicht nur versuchen, Arbeitsplätze „auf dem Land“ zu schaffen und Einkommen zu erhöhen. Denn: „Es sind nicht die ärmsten Landregionen, wo die politische Unzufriedenheit am größten ist.“ Eine wichtige Quelle dafür seien auch Mängel in der Gesundheitsversorgung und anderen öffentlichen Dienstleistungen auf dem Land – hier könnte die Politik ansetzen.