Cover des Buchs „Ich grase meine Gehirnwiese ab“ von Paul Valery der S. Fischer Verlage
S. Fischer Verlage
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Paul Valéry

„Ich existiere, um etwas zu finden“

Vor 150 Jahren, am 30. Oktober 1871, wurde Paul Valéry geboren. Das zentrale Projekt des Dichter-Philosophen bestand darin, Klarheit über sein Ich zu gewinnen. Er interessierte sich besonders für den Zusammenhang von Bewusstsein, Denken und Gedächtnis.

In den über 26.000 Seiten der „Cahiers“ – der „Notizen“, die als Valérys Hauptwerk gelten, finden sich zahlreiche Reflexionen über die Funktion des Bewusstseins. In immer neuen Anläufen beobachtete er seine Gedanken bei ihrer Entstehung, wobei er auf die Präzision der Beobachtungen größten Wert legte. Die „Cahiers“ verstand Valéry als eine Form der Selbstschreibung: „Ich existiere, um etwas zu finden.“

Nicht Herr im eigenen Haus

Der Ausgangspunkt von Valérys Reflexionen über das Ich ist ein tiefes Erschrecken über die Tatsache, dass das Ich nicht mehr Herr im eigenen Haus ist. Der labyrinthische Leib entzieht sich der rationalen Kontrolle, die Funktionsweise des Organismus ist nicht berechenbar. Emotionen und Gefühle können das Kalkül einer Lebensplanung durcheinanderbringen und das Unbewusste erschüttert das Fundament der Ichinstanz.

„Der Mensch ist nur an seiner Oberfläche Mensch. Blicke unter die Haut, seziere – schon beginnen die Maschinen“, schreibt Valéry und weiter: „Dann verlierst du dich in einer unerklärlichen Substanz, die allem, wovon du weißt, fremd und doch wesentlich ist. Ebenso geht es mit deinem Fühlen und Denken. Die Vertrautheit und die menschliche Erscheinung alles dessen, schwinden bei näherer Prüfung und unter diese Haut blickt, so bestürzt mich, was hier zutage tritt.“

„Anthropometrisches Datenblatt“

In einer zentralen Passage der „Cahiers“ beschreibt Valéry die zahlreichen Komponenten, die ein „normales“ menschliches Leben bestimmen. Er nennt sie ein „anthropometrisches Datenblatt von intimer Art“. Auf diesem Datenblatt sind verschiedene Komponenten eingetragen, die für die Klassifikation eines Individuums wesentlich sind. Dazu zählen Geburtsdatum, Größe, Körpergewicht, Schulbesuch oder berufliche Qualifikation. Diese Eckdaten stellen den Rahmen für ein bürgerliches Heldenleben dar.

In den Worten Valérys: „Beim Erwachen findet man seine Gedanken, seine Angelegenheiten, seine Bedürfnisse, seine Kleider wieder – man nimmt die unterbrochene Tätigkeit wieder auf, man nimmt wieder seinen Platz ein in einem System, in dem Gegenstände, Projekte, Vorstellungen, Gefühle und Kräfte miteinander verzahnt sind. Man wird wieder zum Bürger, zum Ehemann, zum Kranken oder zum Aktionär.“

Suche nach dem „reinen Ich“

Valéry unterscheidet zwischen der Person – dem sozialen Ich, das gesellschaftlichen Konventionen unterworfen ist – und dem „Ich“, dem „Moi“, das als Rückzugsgebiet dient und anderen Menschen nicht zugänglich ist. Valéry plädiert dafür, dass sich das Ich von den sozialen Konditionierungen löst, um und durch die ständige Arbeit am eigenen Selbst ein „reines Ich“ hervorzubringen. Dieses Ich ist „attributlos, bildfrei und wertfrei“.

In literarischer Form findet sich die Suche nach einem „reinen Ich“ in dem Romanfragment „Herr Teste“. In dem Gespräch mit dem Erzähler-Ich, das stolz bekennt, dass „Dummheit nicht seine Stärke sei“, wird Herr Teste als eine Kunstfigur vorgestellt, die das Bestreben nach einer vollkommen rationalisierten Existenz verkörpert. Er ist ein Grenzgänger, „ein apollinisches Gedankengeschöpf“, das das Wagnis auf sich nimmt, ohne philosophische Leitbilder selbst zu denken.

Porträts der französischen Dichter Paul Valery, Arthur Rimbaud und Charles Baudelaire auf den Häuserwänden in einem Pariser Vorort
AFP – JOEL SAGET
Porträts der französischen Dichter Paul Valery, Arthur Rimbaud und Charles Baudelaire auf den Häuserwänden in Pariser Vorort

Anti-Philosoph mit Möglichkeitssinn

Herr Teste lehnt es ab, in die Falle irgendeiner sozialen Prägung zu gehen, die immer mit einem Konformitätsdruck verbunden ist. Diese Radikalität hat seinen Preis: Da Herr Teste jegliche soziale Bindungen ablehnt und nur sein „reines Denken“ verfolgt, ist er völlig isoliert, was ihn nicht weiter stört. „Ich bin allein, wie behaglich ist die Einsamkeit“ heißt es gegen Ende des Textes.

Valéry entfaltet ähnlich wie Robert Musil einen „Möglichkeitssinn“; sein Denken richtet sich auf Kommendes, Potenzielles. Deswegen lehnt er das „lächerliche Systemdenken“ vieler Philosophen ab, die von der Fehlannahme ausgingen, den vielfältigen Phänomenen ein einheitliches System überzustülpen. Valéry hat sich als „Anti-Philosoph“ bezeichnet; den traditionellen Philosophen sah er als groteske Figur: „Der Philosoph ist einer, der weniger weiß als die anderen, da er doch über Jahre davon überzeugt war, für Probleme Lösungen bereit gestellt zu haben, die folgenlos bleiben.“ Valéry lehnt vor allem metaphysische Fragestellungen ab, in denen das Wesen des Seins ergründet werden sollte.

Ö1 Sendungshinweis:

„Ich denke mich, also bin ich.“ – Zum 150. Geburtstag des Schriftsteller-Philosophen Paul Valéry. Von Nikolaus Halmer. Eine Sendung von Nikolaus Halmer, Ö1 Dimensionen, 25.10., 19.05 Uhr

Er schreibt: „Ob ich meine Existenz bezweifle oder nicht, ob ich diesen Tisch für wirklich halte oder für imaginär halte, ob ich die Möglichkeit, dass er sich bewegt, in Zweifel ziehe, ob ich mich als frei oder determiniert wahrnehme, als Tier oder als Geist, als flüchtiges Phänomen oder als Herr des ewigen Augenblicks … dadurch ändert sich nichts.“

Disziplin und Dressur des Denkens

Valérys Verständnis des Denkens ohne Leitbilder, das mit einer ständigen Selbstbeobachtung korrespondiert, erfordert eine strenge Disziplin, wie sie der Dichter-Philosoph in den „Cahiers“ ausübt. In der täglichen mehrstündigen Arbeit ließ er seinen Kopf exerzieren, wie er in einem Brief schreibt, um eine höchstmögliche Klarheit und Präzision des Denkens zu erreichen.

„Diese Kunst des Denkens“ vergleicht Valéry mit dem Training eines Sportlers, der sich zu Höchstleistungen antreibt. Dazu bedarf es einer ständigen Übung, um sich der Prägung durch die Macht des Alltäglichen – des „anthropometrischen Datenblatts“ – zu entziehen. Der übende Mensch, sämtlicher religiöser oder metaphysischer Gewissheiten beraubt, schafft sich – wie Herr Teste – eine Rückzugszone, in der er sich zu einem Denk-Künstler seiner selbst ausbildet – nach dem Motto: „Ich denke mich, also bin ich.“

Aufgeklärte Anarchie

„Mein philosophischer Gesichtspunkt ist die Vielfalt der Gesichtspunkte“, schreibt Valéry. Einer dieser Gesichtspunkte ist überraschenderweise seine Schrift „Prinzipien aufgeklärter An-archie“. Als Anarchist bezeichnet er einen Beobachter, „der das sieht, was er sieht, und nicht das, was man gemeinhin sieht. Er denkt darüber nach.“ Das Ergebnis dieses Nachdenkprozesses sind kritische Bemerkungen über die zunehmende Bürokratisierung der Gesellschaft, über die Verbreitung irrationaler Meinungen, über den Dogmatismus und die Beschränktheit parteipolitischer Überzeugungen, über ideologisch motivierten Aktivismus, der lautstark in der Öffentlichkeit erfolgt und über Medien, die der Unterhaltung und Zerstreuung dienen.

Diese Bemerkungen, die in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden, können als Anleitungen dienen, aktuelle zeitgenössische Phänomene zu analysieren; sie nicht zu sehen, wie es irgendeine Interessengruppierung fordert, sondern so, wie sie sind. Deshalb ruft Valéry auf, solchen Aufforderungen keine Folge zu leisten: „An-archie ist der Versuch, jegliche Unterwerfung unter einen Befehl, der auf Unverifizierbarem gründet, zurückzuweisen.“