Ein Auskunftslokal in Wien informiert über den Start des ORF-Fernsehens
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Rundfunkgeschichte

Als im ORF der Proporz dominierte

Vor 55 Jahren, am 1. Jänner 1967, ist ein für die damalige Zeit wegweisendes Rundfunkgesetz in Kraft getreten – Folge des Rundfunkvolksbegehrens von 1964, das den politischen Proporz und Konsensjournalismus der frühen ORF-Jahre kritisiert hatte. Dieses Proporzdenken lässt sich auch in vielen Tondokumenten nachhören, die science.ORF.at zum Jahreswechsel zusammengestellt hat.

Mit der Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrags am 15. Mai 1955 startet auch die Ära eines einheitlichen Rundfunks in der Zweiten Republik. In jenen Tagen beginnt auch die Geschichte des Fernsehens. Obwohl hierzulande bereits seit 1951 damit experimentiert wird, gilt der 1. August 1955 offiziell als Starttag. Ab da wird ein regelmäßiges Fernsehversuchsprogramm gestartet.

Zwei Jahre später konstituiert sich am 11. Dezember 1957 die Österreichische Rundfunk Gesellschaft. Zum Vorsitzenden, und damit ersten Generaldirektor des ORF, wird Karl Cejka bestellt.

Der erste ORF Generaldirektor Karl Cejka erinnert sich an die Gründung der Österreichischen Rundfunk Gesellschaft – sie sollte weder als Aktiengesellschaft noch als Anstalt öffentlichen Rechts geformt werden, um nicht zu privatwirtschaftlich oder staatlich ausgerichtet zu sein.

Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung wird mit der Beteiligung des Bundes und der Länder am 12. Dezember 1957 offiziell gegründet. Zweck der Gesellschaft ist die Veranstaltung und Verbreitung von Darbietungen aller Art – in Ton und Bild. In den 17 Jahren ihres Bestehens zwischen 1957 und 1974 wird neben dem Radio auch das Fernsehen zum Massenmedium – zum Fenster in die weite Welt.

Bereits 1961 wird das Fernsehprogrammangebot „FS1“ um den Sender „FS2“ erweitert. Sie entsprechen den heutigen Sendern ORF1 und ORF2. Stars können nun nicht nur im Radio gehört, sondern auch im Fernsehen gesehen werden.

Aber vor allem die Ereignisse der Zeit finden akustisch und visuell Einzug in die Küchen, Stuben und Wohnzimmer der österreichischen Bevölkerung. Radio und Fernsehen fördern die Demokratisierung und sind maßgeblich an der Bildung einer eigenen österreichischen Identität beteiligt.

Proporzrundfunk von 1957 bis 1967

Die Zeit ab und kurz nach 1955 ist die große Zeit der Proporzdemokratie. Die Zeit ist geprägt vom Konsensjournalismus, und die programmlichen Inhalte sollen zeigen, dass es im unabhängigen Österreich weiter aufwärts geht. Im Sport, in der Kultur und auch wirtschaftlich hält der Aufschwung an. Die politische Macht wird in Österreich zwischen den beiden Großparteien SPÖ und ÖVP aufgeteilt – auch im Rundfunk.

Proporz will gelernt sein. Staatsvertrags-Reporter Heinz Fischer Karwin erinnert sich im Jahr 1974 an eine Szene: Das Radiointerview mit Staatssekretär Kreisky war länger als die Erklärung von Außenminister Figl. Diese Tatsache stellte einen Skandal dar, da ja der ÖVP-Außenminister dem SPÖ-Staatssekretär im Rang übergeordnet war.

Die internationale Politik ist geprägt vom Kalten Krieg zwischen den Militärbündnissen in West und Ost. Der Eiserne Vorhang verläuft direkt vor der Haustür. Österreich versteht sich als Vermittler zwischen den beiden Welten.

Die Politik schaut nach vorne. Die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit während des Nationalsozialismus wird erst viele Jahre später beginnen. Das Fernsehen versucht jedoch bereits 1961 Denkanstöße zu geben. Am bekanntesten ist „Der Herr Karl“ mit Helmut Qualtinger. Nach der Ausstrahlung gibt es massive Protestanrufe beim ORF und Morddrohungen gegen die Produzentinnen und Produzenten.

Der Herr Karl
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Der Herr Karl

Weltpolitik in Wien

Im selben Jahr, nämlich Anfang Juni 1961, kommt es in Österreich zu einem historischen Ereignis. Es findet ein Treffen der damals mächtigsten Männer der Welt, John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow, in Wien statt.

Der Rundfunk berichtet von der Ankunft von Nikita Chruschtschow am 2. Juni am Südbahnhof in Wien: Die Sowjetdelegation ist nach Wien gekommen, um mit Präsident Kennedy in persönlichen Kontakt zu treten.

Die Politikerinnen und Politiker nutzen den Rundfunk bewusst, um Politik zu machen. Radio und Fernsehen sind nach dem Selbstverständnis der damaligen Politik eine vorgelagerte Behörde und stehen selbstverständlich als Sprachrohr zur Verfügung. Der Rundfunk ist den Parteisekretariaten und nicht der Bevölkerung Rechenschaft schuldig.

Das Rundfunkvolksbegehren im Jahr 1964

Mit dem demokratiepolitischen Verständnis der jungen heranwachsenden Generation ist der Proporz als Prinzip der Gewaltenteilung nicht mehr vereinbar. Die Verhältnisse stoßen auf Unbehagen. Dieses erreicht auch den Rundfunk. Eine junge Generation von Journalistinnen und Journalisten, die nicht in autoritären Verhältnissen aufgewachsen sind, ergreifen die Initiative.

Im Jahr 1964, in welchem die Olympischen Winterspiele in Innsbruck stattfinden – ein weiteres Medienereignis – wird der Rundfunk selbst zum Politikum. Das Runfunkvolksbegehren wird als erstes Volksbegehren in Österreich abgehalten.

Hugo Portisch ist Mitinitiator des Rundfunkvolksbegehrens und damals Chefredakteur beim Kurier. In einem späteren Interview spricht er über diese Zeit: Im Rundfunk wurde nicht mit einer Zeile über das Volksbegehren berichtet. Es herrschte „totale Zensur“.

Knapp mehr als 830.000 Österreicherinnen und Österreicher unterschreiben es. Die Initiatoren sind voller Hoffnung, aber es passiert nichts. Das Runfunkvolksbegehren verschwindet in den Schubladen der Parteisekretariate.

In den 1960er Jahren wechselte Portisch als Chefkommentator zum ORF
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In den 1960er Jahren wechselte Portisch als Chefkommentator zum ORF

Erst das Jahr 1965 bringt die Wende. Eine Regierungskrise führt zu vorgezogenen Nationalratswahlen. Josef Klaus von der ÖVP greift das Rundfunkvolksbegehren wieder auf und heftet es im Wahlkampf an seine Fahne. Nach dem Sieg bei den Nationalratswahlen am 3. März 1966 setzt die ÖVP das Rundfunkvolksbegehren gemeinsam mit der FPÖ um.

Die Ära Gerd Bacher von 1967 bis 1974

Am 1. Jänner 1967 tritt das neue Rundfunkgesetz in Kraft. Es spricht dem Österreichischen Rundfunk volle Autonomie in Programm, Personal und Finanzen zu. Es folgt eine neue Organisationsstruktur. Gerd Bacher wird am 9. März 1967 zum ersten ORF-Generalintendanten gewählt.

Bacher erinnert sich, wie er zum ersten Mal zum ORF-Generalintendanten gewählt wurde: Hugo Portisch und Bruno Fleinig haben ihn überredet, für den Posten zu kandidieren. Das Einzige, was er als Voraussetzung mitgebracht hätte, war, dass er ein gelernter Journalist ist.

Es beginnt eine neue Zeitrechnung im Österreichischen Rundfunk. Ein Redakteursstatut wird eingeführt, und die Gestaltenden beginnen eigenverantwortlich zu agieren. Dadurch treten sie auch namentlich hervor – damals eine Neuheit.

Personell ändert sich auch so Einiges. Unter anderem wechselt der Mitinitiator des Rundfunkvolksbegehrens Hugo Portisch als Chefkommentator in den ORF.

Erste Antrittsrede von Gerd Bacher

Erste Antrittsrede von Gerd Bacher

Tiefgreifende Programmreform

Im Laufe des Jahres 1967 folgt eine tiefgreifende Programmreform. Am 1. Oktober senden erstmals die neu gegründeten Radiosender Ö1 und Ö3. Die Regionalsender werden mit der Sammelbezeichnung Ö2 zusammengefasst. Inhaltlich öffnet sich der ORF ab 1967 nicht nur der Jugend mit eigenen Programmangeboten, sondern auch den verschiedenen Gesellschaftsschichten. Das Programm in Radio und Fernsehen wird diverser.

Im Jahr 1969 wird das heutige ORF Radio-Symphonieorchester Wien gegründet und von 1971 bis 1982 unterhält der Österreichische Rundfunk eine eigene Radio-Big-Band.

Neben den strukturprogrammlichen Neuerungen wird auch eine bauliche Neuordnung initiiert. Im Jahr 1968 wird mit dem Bau des ORF Zentrums am Küniglberg begonnen. In den Bundesländern werden neue Landesstudios gebaut. Das letzte Landesstudio wird in den 1990er Jahren in St. Pölten eröffnet. Besonders hervorzuheben ist die mit 1967 bewusst forcierte „Informationsexplosion“.

Der Beginn des ersten Ö1 Mittagsjournals vom 2. Oktober 1967: Bis heute informiert das Mittagsjournal täglich auf Ö1 um 12 Uhr über die aktuellen Geschehnisse.

Neu entwickelte Nachrichtenformate wie etwa die Journale im Radio halten die Hörerinnen und Hörer auf dem Laufenden. Auch aus dem Parlament wird berichtet. Und im Fernsehen wird die Nachrichtensendung „Zeit im Bild“ immer wichtiger.

Männer dominieren

Der Rundfunk jener Tage ist fast ausnahmslos von Männern dominiert. Frauen leisten die wichtige Arbeit im Hintergrund. Es gibt jedoch eine Ausnahme. Im Bereich der Fernsehansagerinnen waren hauptsächlich Frauen wie etwa Chris Lohner oder Eva Maria Klinger am Bildschirm. Als Gestalterinnen treten sie in dieser Zeit aber nicht. Erst 1975 war Annemarie Berté erste Moderatorin der „Zeit im Bild“ – ein Meilenstein.

Im Jahr 1969, dem Jahr der Mondlandung, wird in Österreich mit der Ausstrahlung von Farbfernsehen in begonnen. Die Bilder wirken nun noch eindrucksvoller.

Österreichs „größte Orgel“

Im Jahr 1972 zeigt sich, wie mächtig die Massenmedien Radio und Fernsehen in Österreich mittlerweile geworden sind. Als der populäre Schirennfahrer Karl Schranz von den olympischen Winterspielen in Sapporo ausgeschlossen wird, kommt es zur Massenhysterie. Der ORF trägt wesentlich dazu bei. Wohin die Kombination aus Starkult und neue Massenmedien in den 1930er Jahren geführt hat, ist vielen noch bewusst. Der Rundfunk wird erneut zum Politikum.

Beim Empfang von Karl Schranz am 8. Februar 1972 in Wien kommt es zur Hysterie: Schranz legte fast die gesamte Strecke über den Ring stehend im Auto zurück und trat dann vor die johlende Menge auf den Balkon am Ballhausplatz.

Karl Schranz beim Empfang nach seinem Ausschluss von den Olympischen Spielen in Sapporo 1972 am Balkon des Bundeskanzleramtes.
APA/Fritz Kern/Önb Bildarchiv/Orf
Karl Schranz am Balkon des Bundeskanzleramtes

1974 Anstalt öffentlichen Rechts

Mit dem Bundesverfassungsgesetz vom 10. Juli 1974 wird die Österreichische Rundfunk Gesellschaft in eine Anstalt öffentlichen Rechts umgewandelt.

Bundeskanzler Bruno Kreisky von der SPÖ während der Nationalratsdebatte am 10. Juli 1974: Er wirft dem ORF-Generaldirektor Bacher dabei vor, „dass er eine unbändige Lust hat, auf der größten Orgel Österreichs so zu spielen, wie es ihm passt“.

Am 1. Oktober 1974 feiert der Rundfunk in Österreich sein 50-jähriges Jubiläum. Zahlreiche Sonderprogrammpunkte und festliche Akte sind hierfür geplant und werden abgehalten.

Am 30. September, dem Vorabend des Jubiläums, hält Gerd Bacher bei der Präsentation des ORF Zentrums am Küniglberg Rückblick auf seine siebenjährige Amtszeit: Durch die fünf Rundfunkjahrzehnte ziehe sich ein roter Faden, die politische Ausgesetztheit des Unternehmens. Nie sei der unabhängige Lebensraum gewährt worden, wie ihn etwa die BBC genieße.

Gerd Bacher wird kurz darauf von dem SPÖ-nahen Juristen Otto Oberhammer als Generalintendant abgelöst. Es wird ein Kuratorium, ein Hörer- und Seherbeirat eingeführt, die Positionen eines Hörfunk- und zweier Fernsehintendanten geschaffen. Die Macht des Generalintendanten wird dadurch stark eingeschränkt.